Morenga
schieben, fragte er, warum er in dieses Land gekommen sei. Darf man unschuldige Menschen töten? Darf man überhaupt Menschen töten?
Das wandelnde Gewissen, witzelte Leutnant Elschner, der dann später aber in einem kühnen Vorgriff auf kommende Zeiten dafür den Begriff der Wehrkraftzersetzung prägen sollte. In einem Bericht, den er nach dem Überfall auf seinen Transport schreiben mußte, behauptete er, daß ein Grund für die nur sehr mangelhafte Gegenwehr seiner Leute in deren Wehrkraftzersetzung durch einen ehemaligen Dominikanerpater namens Meisel gelegen habe. Dazu habe ebenfalls ein Oberveterinär beigetragen, allerdings nicht so offen und plump wie der Pater, dafür aber auch weniger angreifbar. Der Veterinär habe immer wieder mit den eingeborenen Treibern und Tauführern Nama gesprochen, was bei der deutschen Begleitmannschaft nur am Anfang den gewohnt komischen Effekt gezeigt, später hingegen sogar Bewunderung ausgelöst habe. Hinzu sei die ganz unsoldatische Schwärmerei des Oberveterinärs für alles Hottentottische gekommen. Deren Friedfertigkeit, ihre gegenseitige Hilfe und die urkommunistischen Formen ihres Zusammenlebens habe er immer wieder gelobt.
Mehr als der doch etwas alberne Vorwurf Meisels, Konversation getrieben zu haben, beschäftigte Gottschalk die Beschuldigung des Paters, er, Gottschalk, habe sich inzwischen mit dem Unrecht, das den Hottentotten geschehe, abgefunden. Ja, er habe sich mit den Unterdrückern arrangiert, ihnen sogar bei ihrem blutigen Handwerk geholfen.
Gottschalk hatte zunächst dagegen argumentiert und betont, daß alle Erkenntnisse, sei es über die Kamelhaltung oder über die Rinderzucht, einmal allen Menschen in diesem Lande zugute kommen würden. Irgendwann. Eben. Aber wann war das, dieses Irgendwann?
Vielleicht lag gerade darin das Beunruhigende für Gottschalk, daß er ahnte, Meisel habe recht.
Was war das, was das Ungewöhnliche, Entsetzliche erst erträglicher und schließlich gewöhnlich werden ließ? Könnte man leben, ohne vergessen zu können?
Elschner hatte einmal gelegentlich zu Gottschalk gesagt: Der einzelne ist nichts.
Der einzelne ist alles, hatte Gottschalk geantwortet.
Was Gottschalk erst jetzt richtig verstand, war jener Satz von Wenstrup, den er auf die Titelseite des Kropotkin geschrieben hatte: Es gibt keinen einsamen Kampf. Gottschalk schrieb ihn in sein Tagebuch und fügte hinzu: Es gibt keine einsame Hoffnung.
Tagebucheintragung Gottschalks vom 23. 9. 05
Von der Schönheit der Ortsnamen: Besondermeid, Kinderzit, Greondorn, Zwartmodder, Rosinenbusch.
24. 9. 05
Heute nacht wachte ich von einem Traum auf, konnte mich aber nicht mehr an Einzelheiten erinnern, nur daß ich hochschreckte, als etwas Ruhiges, unbeschreibbar Schönes auf mich zukam. Benommen lag ich eingewickelt in der Decke. Um mich herum Schnarchen. Über mir die Sterne, sehr nahe. Da packten mich plötzlich Angst und Haß, und alles in mir verkrampfte sich. Der Atem stockte. Ich sprang auf und hatte diesen wahnsinnigen Wunsch, alle zu erschießen, die da herumlagen, schnarchend und nach Schweiß und Alkohol stinkend. Ich stand auf und nahm mein Gewehr. Etwas abseits saß der Posten und rauchte Pfeife. Dieser Rauch, deutlich sichtbar im Mondschein, machte, daß ich ruhig wurde.
Am 25. September, nachmittags, kamen Regenwolken auf. Wenig später fielen die ersten schweren Tropfen, dann goß es, als würde das Wasser aus Kannen geschüttet. Nach wenigen Minuten saß Gottschalk durchnäßt auf seinem Kamel. Im Magen war wieder dieser Druck. Das Gefühl von Übelkeit. Brechreiz. Die Hutkrempe weichte langsam durch und hing ihm schlapp ins Gesicht. Er erinnerte sich an den Tag seiner Abreise aus Hamburg und verspürte den intensiven Wunsch, durch die Straßen Eppendorfs zu laufen. Dort verloren zu dieser Zeit die Alleebäume ihr Laub, farbig. Der Gedanke, in diesem Lande eine Farm zu betreiben, kam ihm vor, als habe ihn ein anderer gedacht, als hätte man ihm davon erzählt. Und doch gab es in seinem Tagebuch Zeichnungen und Berechnungen für ein Farmhaus, für Hütten und Häuser, die für die Farmarbeiter bestimmt waren. Die letzte dieser Skizzen zeigt schließlich (sie entstand in Warmbad) eine Art landwirtschaftlicher Genossenschaft oder Kommune, in der alle, die arbeiten, in ähnlichen Häusern untergebracht sind. Größere Hauskomplexe tragen Bezeichnungen wie: Schule, Leseraum, Bibliothek, Turnhalle. Aus dieser Zeit stammt auch eine undatierte Eintragung.
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