Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morenga

Morenga

Titel: Morenga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
Vom Netzwerk:
gekommen war. Er hatte sich nur verabschieden wollen. Er wollte Jan Lemke, dem er monatelang die glühenden Nieten zugeworfen hatte, einfach einmal wiedersehen. Zeisse wußte von den anderen Rekruten, daß die Sozialdemokraten gegen diesen Krieg da unten waren. Aber das allein konnte doch nicht der Grund für dieses feindselige Schweigen sein. Der ließ ihn einfach trocken am Tisch sitzen, nuckelte an seiner abgebissenen Pfeife und sah an ihm vorbei. Zeisse versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen, indem er sich bemühte zu erklären, warum er sich freiwillig zur Schutztruppe gemeldet hatte: Er wolle sich mal den Wind um die Nase wehen lassen, solange er noch jung sei. Das war ein Satz, mit dem sein früherer Schmiedemeister in Bardowick die Erzählungen abzuschließen pflegte, in denen er über seine Wanderjahre als Schmiedegeselle in Belgien und Holland berichtete: Man muß sich den Wind um die Nase wehen lassen, solange man noch jung ist. Aber Lemke sagte nur: Dumm Tuch, und fragte Zeisse, ob er nicht im ›Vorwärts‹ gelesen hätte, was der August Bebel gesagt habe: Das sei ein Krieg der Junker und Schlotbarone und ein großes Unrecht gegen die Swatten. Wo steist du? Danach saßen sie wieder schweigend am Küchentisch im Geschrei der Kinder. Bis eines der Kinder mit der Quaste zu spielen anfing, die vom Seitengewehr, das Zeisse am Koppel trug, herunterhing. Lemke verbot es dem Kind und schlug ihm sogar, als es das nicht gleich ließ, auf die Finger. Dann stand er auf und sagte, zu Zeisse gewandt, nur: So.
    Beim Abschied an der Wohnungstür gab er Zeisse nicht einmal die Hand. Der sagte, während er die steile Treppe in dem finsteren Treppenhaus hinuntertappte, zu sich selbst: Wer nicht will, der hat schon.

    Er fühle sich hier wohl, antwortete Zeisse einmal auf die Frage Gottschalks, warum er sich freiwillig gemeldet habe. Nicht diese Schinderei wie bei Blohm und Voss.

Landeskunde 2
    Klügge, ein Zylinder auf Père Lachaise
    und das Ende der Strauße
    in der Gegend von Bethanien
    oder: Das Faß

    Eines Tages, mittags, zu einer Zeit also – die Luft stand flimmernd im Tal –, in der niemand mit Verstand aus dem Schatten ging, bestiegen drei Männer die schnellsten Pferde in Bethanien und ritten hinaus ins Feld. Was war passiert?
    Seit Menschengedenken lief er unbehelligt durchs Land, auf kräftigen langen Beinen, die den großen Körper trugen, mit rötlichem Hals und einem kleinen glotzäugigen Kopf, und friedlich fraß er inmitten der Rinderherden seine Gräser: der Vogel Strauß. Bis zu dem Tag, als am Horizont ein Reiter auftauchte und im Galopp ihn, der gar nicht flüchten wollte, aufscheuchte mit Flüchen und Peitschenhieben, ihn über diese kochende Ebene jagte, bis seitlich ein zweiter Reiter auf ihn zu galoppierte, worauf er, den Kopf weit vorgestreckt, in die andere Richtung flüchtete, wo ihm aber ein dritter Reiter entgegen kam, so daß er erneut einen Haken schlagen mußte und über Steine und Büsche rannte, hinter sich und seitlich das Keuchen der Pferde, das Schreien der Männer und Peitschenknallen. So hetzten sie ihn, bis er tot umfiel. Warum schossen sie das zutrauliche Tier nicht einfach ab? Es war ihnen nicht einmal das Pulver wert.
    Die Reiter stiegen von den schäumenden Pferden und rissen dem Strauß die Schwanzfedern aus. Den Kadaver ließen sie liegen. Warum mußte dieser Vogel, der friedfertig sich nur von wasserhaltigen Pflanzen nährte, plötzlich seine Federn lassen?
    Vor sieben Monaten, an einem sonnigen, aber kühlen Aprilmorgen des Jahres 1859, tauchte auf dem Friedhof Père Lachaise in der Trauergemeinde, die dem Sarg des auf so tragische Weise verunglückten Leon de Lafargue folgte, ein Zylinder auf, der sogleich die Aufmerksamkeit aller auf sich zog, ja es kam einen Moment lang zu einem höchst unwürdigen Getuschel, Köpfe wurden gereckt, Ellenbogen in die Seiten derer gestoßen, die noch immer angestrengt den Blick auf den Boden gesenkt hielten, als sei dort der stumme Vorwurf des Verstorbenen an den Kutscher zu vernehmen, der ihn überfahren hatte; und nur dem geistesgegenwärtigen Zugriff eines Sargträgers war es zu verdanken, daß der Geistliche nicht ins offene Grab stürzte, als er, die Weihwasserquaste in der erhobenen Hand, das Grab segnend, mit abgewandtem Kopf einen Schritt vor und ins Bodenlose trat. An dem Zylinder des Comte de Boncour war nicht die gewöhnliche Trauerbinde, ein weißes Stoffband, die Pleureuse angeheftet, sondern ein weißer, ins

Weitere Kostenlose Bücher