Morenga
Gottschalk niemals in dem Buch lesend in der Kammer angetroffen. Gottschalk wird das Buch im Freien gelesen haben, nicht aus Angst, mit dieser Lektüre entdeckt zu werden (zu dieser Zeit galt er schon als Sonderling), sondern weil er gern abends, wenn es kühler wurde, unter freiem Himmel saß. Tagsüber konnte man ihn häufig in der Schmiede sehen, wo ein Schutztruppenreiter namens Zeisse arbeitete, ein gelernter Hufschmied, der aus Nägeln und alten eisernen Radreifen Hufeisen zu schmieden verstand. Die meiste Zeit aber arbeitete er an einem repräsentativen Eisengitter für die Veranda des Bezirksamtmanns Graf Kageneck. Zeisse schmiedete aus den kostbaren Eisenstangen, die für eine ganze Reitereskadron Hufeisen geliefert hätten, Gitterstäbe, deren Enden stilisierte Eichenlaubblätter hervortrieben, heraldische Lilien und massive Knubbel, von denen niemand genau sagen konnte, ob es Blütenknospen oder Eicheln waren. Zwischen dieser üppigen eisernen Vegetation sollten später in gleichmäßigen Abständen Eisenstäbe mit Lanzenspitzen stehen, Symbole der Wehrhaftigkeit.
Zeisse, Sohn eines Landarbeiters aus Bardowick, hatte eigentlich Kunstschmied werden wollen, da sich aber keine Lehrstelle finden ließ, auch in Lüneburg nicht, war er zu einem Hufschmied in die Lehre gegangen. Nachdem er seine Lehre abgeschlossen und den Gesellenbrief erhalten hatte, ging er nach Hamburg. Er wollte, wie er das nannte, sich dort den Wind um die Nase wehen lassen. In Hamburg aber fand er keine Arbeit als Hufschmied und wurde endlich, nach langem Suchen, auf der Werft Blohm und Voss als Nietenwärmer eingestellt. Er stand an einem kleinen transportablen Eisenofen, der mit Holzkohle beheizt wurde. In der Holzkohle wurden die Nieten bis zum Rotglühen erhitzt, dann von Zeisse mit einer langen Zange gegriffen und den Nietern zugeworfen. Einer fing sie mit einem Asbesthandschuh auf, steckte sie in eine Zange, hielt sie über das Nietloch, während der andere mit einem schweren Hammer sie in die Eisenplatten trieb. Das alles geschah in einem verwirrenden Tempo. Am Anfang warf Zeisse mehrmals die glühende Niete zu kurz. Zischend fiel sie in den Schneematsch, und die Nieter fluchten, weil sie rumstehen und warten mußten, bis Zeisse die Niete wieder zum Ofen trug und ihnen eine andere zuwarf. Später nietete Zeisse selbst. Dieser Lärm, dieses Dröhnen, das langsam den Kopf ausfüllte, als sei er ein leeres Gewölbe, die Erschütterungen in Armen und Oberkörper, das Ziehen im Rücken, und langsam kroch diese Taubheit in seinem Körper hoch, erfaßte die Beine, Arme, Brust und Nacken, der ihm plötzlich so schwer wurde. Es war, als flösse etwas aus ihm aus, das in Nieten, Bolzen, schließlich in die rostbraunen Eisenplatten überging und erstarrte, bis gegen Abend nichts mehr in ihm war als das Dröhnen in seinem Kopf. Draußen wuchsen währenddessen langsam nach einem undurchschaubaren Plan die Teile zusammen: wurden Kiel, Spanten, Schiffswände, Decks, Reling, Schornsteine. Manchmal morgens, unter wolkenverhangenem oder blauem Himmel, dachte Zeisse an die schweren Ackergäule, die er in Bardowick beschlagen hatte, die man beruhigend hin und her schieben mußte, bis sie ruhig standen und man den Huf heben konnte. Der fauchende Atem des Blasebalgs an der Esse. Der Geruch nach verbranntem Horn. Anfangs hatte Zeisse, am Nietofen stehend, sich vorzustellen versucht, wohin die Schiffe, die sie bauten, einmal fahren würden. Vier Monate später, beim Nieten, dachte er an nichts mehr. Als er seinen Gestellungsbefehl bekam, meldete er sich zu den Pionieren. Er kam in die Altonaer Kaserne. Der Dienst ist, so erzählte er auf Urlaub in Bardowick, leicht.
Als man Freiwillige für die Schutztruppe zur Niederschlagung des Hereroaufstandes suchte, meldete er sich sofort. Von dem Aufstand hatte er gehört, daß sich die Kaffern erhoben und deutsche Männer, Frauen und Kinder getötet hätten, ohne Gnade. Aber der Grund, daß er sich gemeldet hatte, war nicht Rache oder die Verteidigung deutschen Bodens, sondern, daß seine Dienstzeit in drei Monaten abgelaufen wäre. Wenige Tage vor seiner Einschiffung ging er in seiner Schutztruppenuniform zu einem früheren Vorarbeiter, der ihn in das Kesselklopper-Platt eingeweiht hatte. Der Mann wollte ihn erst gar nicht reinlassen. Dann saßen sie in der finsteren Küche und schwiegen, während die Kinder auf dem Boden ihnen zwischen den Beinen herumkrochen. Zeisse fragte sich, warum er überhaupt hierher
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