Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
beiden waren verschwunden. Er wußte nicht genau, ob er sie nun wirklich gesehen hatte oder nicht.
Vor ihnen stand die Tür zum Hauptsaal offen. Vanye beeilte sich und versuchte Morgaine zu überholen. Sie waren umgeben von zahlreichen bizarren Gestalten – einige Männer, die wie Banditen aussahen und eher an ein Berg-Lagerfeuer gepaßt hätten, trieben sich im hinteren Teil der Halle herum; außerdem einige
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aus hohem Klan, die er für Leth hielt. Sie saßen an den bevorzugten Tischen im Raum. Die Gestalten wirkten abgemagert und hungrig; ihre
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waren bunt, wiesen aber zerfranste Säume auf. Ein Zeugnis mußte er ihrer Großzügigkeit und Gastfreundschaft allerdings ausstellen: sie waren in der Tat noch weniger elegant als die Sachen, die man Morgaine geliehen hatte.
Und dann saß da ein Mann, bei dem es sich nur um Leth Kasedre handeln konnte; er nahm den Ehrenplatz in der Mitte ein, noch einigermaßen jung, kaum mehr als dreißig, obwohl sein Babygesicht unter dem ungestutzten dunklen Haar krankhaft bleich wirkte: er trug keine Kriegerzöpfe und schien auch sonst einige Attribute missen zu lassen, die einen Mann ausmachten. Das Haar hing in verschlungenen Löckchen herum. Sein Blick wirkte gehetzt, zuckte hierhin und dorthin, sein Mund war wie der eines Kranken, schlaff, an den Mundwinkeln feucht. Er verströmte Hitze und Kälte zugleich, wie im Fieber.
Seine Kleidung war die schiere Pracht – golddurchwirktes Tuch, die schmale Brust mit Broschen, Klammern und Kettchen aus Gold verziert. Eine juwelenbesetzte Ehrenklinge zierte seinen Gürtel, dazu ein edelsteinschimmerndes Langschwert, das nun wirklich des Guten zuviel war – eine nutzlose, pathetische Staffage. Die Luft um ihn war schwer vom Duft des Parfüms, der den Gestank des Verfalls überdecken sollte. Als Morgaine und Vanye nähertraten, gab es keinen Zweifel mehr – es roch wie in einem Krankenzimmer.
Kasedre erhob sich, wies mit dünner Hand Morgaine einen Platz zu. Sie setzte sich auf die niedrige Bank, die einige Höflinge für sie freimachten; ein Ehrenplatz. Sie trug
Wechselbalg
hoch über der Schulter und öffnete nun den Haken, der den Schultergurt an der Hüfte festmachte, ließ Gurt und Klinge zur größeren Bequemlichkeit herabrutschen. Sie verneigte sich anmutig: Kasedre erwiderte die Geste.
Vanye blieb nichts anderes übrig, als zu Füßen des Leth niederzuknien und die Stirn auf den Boden zu pressen, eine Ehrerbietung, die der Leth kaum wahrnahm, so sehr war er auf Morgaine konzentriert. Vanye kroch schließlich zur Seite und nahm seinen Platz hinter ihr ein. Es war bitter: er war Krieger – zumindest war er das
gewesen –,
ein stolzer, kampferprobter Bastard, und gewiß stand Nhi Rijans Bastard höher als dieser berüchtigtste aller Klein-Lords. Aber er hatte
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in Ra-morij gesehen, die erniedrigt, ihrer Rechte beraubt, vergessen und ignoriert wurden, ohne daß jemand einen Gedanken darauf verschwendete, was der Mann früher einmal gewesen war, ehe er ein namenloser
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wurde. Hier und jetzt war Protest nicht angebracht: die Leth waren äußerst gefährlich.
»Es fasziniert mich, eine Person wie dich bei uns zu haben«, sagte Leth Kasedre. »Bist du wirklich Morgaine aus Irien?«
»Das habe ich nie behauptet«, antwortete Morgaine.
Der Leth blinzelte, lehnte sich ein wenig zurück, leckte sich verwirrt die Mundwinkel. »Aber du bist es«, sagte er. »In dieser Welt hat es keine andere wie dich gegeben!«
Auf Morgaines Lippen zeichnete sich plötzlich ein Lächeln ab, das nicht weniger bizarr war als das des Lords. »Ich bin Morgaine«, sagte sie. »Du hast recht.«
Kasedre atmete mit einem langen Seufzer aus. Er machte eine weitere Geste der Höflichkeit, die beantwortet werden mußte – eine seltene Ehre für einen Gast in der Burg. »Wie kommt es, daß du bei uns bist? Bist du zurückgekommen – um in neue Kriege zu reiten?«
Seine Stimme klang eifrig; die Aussicht schien ihn zu entzücken.
»Ich sehe, was es zu sehen gibt«, antwortete Morgaine. »Ich interessiere mich für Leth. Du scheinst mir ein interessanter Anfang für meine Reisen zu sein. Außerdem…« – sie senkte bescheiden den Blick – »bist du sehr großzügig zu meinem
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gewesen; allerdings sind da die Zwillinge zu bedenken.«
Kasedre fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wirkte plötzlich nervös. »Zwillinge? Ach, die bösen, bösen Kinder. Man wird sie strafen.«
»Das wäre nur recht und billig«, stimmte ihm Morgaine
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