Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
ihrem Lord gefiel oder nicht, es war auf jeden Fall eine Sache unter Kriegern und
uyin.
Mit vier ungleichen Schnitten trennte er die Locken ab und warf das Rasiermesser auf den Tisch, um es von den Dienern wieder fortbringen zu lassen.
In dieser Aufmachung begab er sich zu seiner abendlichen Zusammenkunft mit dem Bruder.
Erij wußte den bitteren Humor der Geste nicht zu schätzen.
»Was ist das für ein Unsinn?« grollte er. »Vanye, du entehrst das Haus!«
»Das habe ich doch längst getan«, antwortete Vanye leise. Erij starrte ihn mißbilligend an, war aber so vernünftig, ihn ansonsten in Ruhe zu lassen. Vanye setzte sich an den Tisch und aß, ohne von seinem Teller aufzublicken und ohne viel zu sprechen, und Erij aß ebenfalls, schob aber den Teller schließlich halb geleert zurück.
»Bruder«, sagte Erij, »du versuchst mich zu beschämen.« Vanye verließ den Tisch und stellte sich an den Herd, die einzige wirklich warme Stelle im Raum. Nach einer Weile folgte ihm Erij, legte ihm die Hand auf die Schulter und veranlaßte ihn, sich umzudrehen.
»Darf ich abreisen?« fragte Vanye, und Erij fluchte.
»Nein! Du gehörst zur Familie und hast hier Verpflichtungen.«
»Wem gegenüber? Dir – nach allem, was geschehen ist?« Vanye blickte zu ihm auf und konnte unmöglich zornig sein. In diesem Augenblick malte sich echter Kummer auf Erijs Gesicht, bei dem er andauernde Reue nun wirklich nicht gewöhnt war. Er wußte nicht, wie er diese Haltung beurteilen sollte. Er kehrte zum Tisch zurück und setzte sich. Erij folgte ihm und nahm ebenfalls Platz.
»Wenn ich dir Waffen und ein Pferd gäbe«, fragte Erij, »was würdest du dann tun? Ihr folgen?«
»Ich bin durch einen Eid gebunden«, antwortete er. »Noch immer.« Dann fügte er hinzu, um zu sehen, ob er Erij die Information abringen konnte: »Wo ist sie?«
»Sie lagert in der Nähe von Baien-ei.«
»Gibst du mir die Waffen und das Pferd?«
»Nein. Bruder, du bist ein Nhi. Ich gewähre dir Pardon für deine anderen Taten. Ich habe nichts gegen dich.«
»Dafür danke ich dir«, sagte Vanye leise. »Und ich verzeihe dir deine Untaten an mir.«
Erij biß sich auf die Lippen; beinahe wäre der alte Jähzorn wieder in ihm aufgeflammt, doch er unterdrückte die Regung. Statt dessen neigte er den Kopf. »Sie sind schlimm«, bestätigte er, »und das letzte Vergehen an dir war eines der kleineren. Aber ich schwöre dir, du sollst mein Bruder sein, Erbe nach meinen Kindern. Und wenn du endlich zur Vernunft kämst, könnten wir über ein größeres Morija herrschen, als ich allein oder unser Vater je unter sich hatten.«
Vanye griff nach dem Weinkrug. Die Worte ließen eine Alarmglocke in ihm anschlagen. Er setzte das Getränk ab. »Was willst du von mir?«
»Du kennst die Hexe. Du stehst dich gut mit ihr. Du weißt, was sie erstrebt, und ich möchte meinen, du weißt auch, wie man dieses Ziel erreicht: das geht aus dem Auftrag hervor, den sie dir gab.
Ich möchte wetten, du hast ihre Waffen in Aktion gesehen und kennst die Kräfte, die darin schlummern; ihr seid zusammen durch den Koriswald geritten. Ich vermute sogar, daß du weißt,
wie
man diese Mittel einsetzt. Ich bin kein Mann, der an Zauberei glaubt, Vanye, und dasselbe nehme ich von dir an, trotz deines Chyabluts. Menschenhände bewirken Ereignisse, nicht Wünsche und Zauberstäbe aus dem Nichts. Habe ich nicht recht?«
»Was hat das mit mir und dir zu tun?«
»Zeig mir, wie diese Dinge funktionieren. Halte deinen Eid und töte Thiye, wenn du unbedingt mußt: aber mit meiner Hilfe. Denk daran, daß du ein Mensch bist; denk daran, was du deiner eigenen Art schuldig bist. – Hör zu! Seit Irien hat es in Andur-Kursh nur eine Macht gegeben: Hjemur, und die ist von ihr geschaffen, aus ihren Lügen erstanden, ihrer falschen Führung. Das Königreich unseres Vaters galt früher viel in den Mittelländern. Die alten Hochkönige sind längst fort, ebenso der Einfluß, den wir einmal hatten, dank Morgaine.
Nun ist es uns in die Hand gegeben, diesen Einfluß zurückzugewinnen, deinen und meinen. Schau mich an, kleiner Bruder! Ich schwöre es dir- ich schwöre dir, daß niemand über dir stehen soll außer ich.«
»Trotzdem bin ich
ilin«,
wandte Vanye ein, »und vor allen deinen Versprechungen geschützt. Morgaines Macht liegt in den Dingen, die sie bei sich führt, und wenn du nicht lügst, ist diese Macht ungebrochen. Fordere sie nicht heraus, Erij, sonst bringt sie dir den Tod; sie ist des Tötens
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