Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
Mühe, mir bei Tisch das Fleisch zurechtzuschneiden. Eines Tages brauche ich einen Bruder mit zwei gesunden Händen, einen Bruder, dem ich vertrauen kann, Vanye.«
Das alles kam zu schnell, dieser plötzliche Stimmungsumschwung in Erij: Vanye war verblüfft und vage beunruhigt, doch die Stelle, die eigentlich die Familie einnehmen sollte, war zu lange leer gewesen; und der Druck der Hand seines Bruders auf seinem Arm und das Angebot von Heim und Ehre überwog im Augenblick andere Überlegungen.
Allerdings nicht völlig.
Abrupt schüttelte er den Kopf. »Solange sie lebt«, sagte er, »und auch über ihren Tod hinaus bin ich Morgaine verpflichtet.
Deshalb konnte sie mich hierlassen. Es ist meine Aufgabe, Thiye zu töten und die Zauberfeuer zu vernichten: dies hat sie mir auferlegt.«
»Sie hat dir noch etwas anderes eingegeben«, verkündete sein Bruder nach kurzem Schweigen besorgt. »Der Himmel möge die Verrückten schützen! Hast du deinen eigenen Worten einmal nachgelauscht, Vanye? Ist dir klar, was sie da von dir verlangt? Du hast gestern abend die Hand nicht gegen dich selbst heben können – glaubst du etwa, die dir gestellte Aufgabe sei einfacher? Sie hat dir den Befehl gegeben, dich selbst umzubringen, darauf läuft es hinaus!«
»Es war eine faire Verpflichtung«, sagte er, »sie hat im Rahmen ihres Rechts gehandelt.«
»Sie hat dich verlassen.«
»Du hast sie fortgeschickt. Sie war verwundet und hatte keine andere Wahl.«
Erij packte ihn mit schmerzhaftem Griff. »Ich würde dir hier Unterkunft gewähren. Du wärst kein Geächteter mehr, du würdest dein Leben nicht bei dieser unmöglichen Mission verlieren -du wärst in Ra-morij, geehrt, der zweite Mann im Staat. Vanye, hör auf mich. Sieh mich an! Dies ist menschliches Fleisch. Ich bin ein Mensch. Diese Frau aber
ist
das Zauberfeuer – eine kalte Gefährtin, gefährliche Gesellschaft für jemanden aus menschlichem Fleisch und Blut. Sie hat zehntausend Männer umgebracht, und das alles im Namen derselben Lüge, und jetzt glaubst du sogar daran! Ich lasse es nicht zu, daß ein Angehöriger meines Hauses ein solches Ende nimmt. Sieh mich an. Betrachte mich. Kannst du ihr auch so ruhig in die Augen sehen?«
Du weißt nicht, wie groß das Böse ist, dem du dienst. Sie lügt, nicht zum erstenmal, und das war der Untergang von Koris. Der
Ilin-Eid
fordert, daß du die Familie verrätst, deinen Herd, doch nicht den
liyo;
aber fordert er auch von dir, deine eigene Art zu verraten?
Komm mit mir, Chya Vanye.
Liells Worte.
»Vanye.« Die Hand seines Bruders glitt von seiner Schulter.
»Geh. Ich lasse dich in dein Zimmer bringen, in ein ordentliches Zimmer im Turm. Schlaf dich aus. Morgen abend wirst du die Vernunft meiner Worte einsehen. Morgen abend unterhalten wir uns weiter, dann erkennst du, daß ich recht habe.«
Und er schlief. Er hatte es nicht für möglich gehalten bei einem Mann, dem Gewissen und Vernunft gleichermaßen genommen worden waren, aber sein Körper hatte eigene Bedürfnisse und schaltete nach einer gewissen Zeit die anderen Sinne einfach ab.
Er schlief sehr gut in dem Bett, das er seit seiner Kindheit kannte, und als er erwachte, schmerzte ihm der ganze Körper von der Behandlung der Myya.
Und er erwachte in das noch schmerzlichere Elend der Erkenntnis, daß er die Nacht im Keller und die Ereignisse in Erij s Raum nicht geträumt hatte; daß er tatsächlich die Dinge getan hatte, an die er sich erinnerte, daß er die Beherrschung verloren und geweint hatte wie ein Kind, und daß er nun bestenfalls noch ein stolzes Gesicht aufsetzen und versuchen konnte, diese Maske vor der Umwelt aufrechtzuerhalten.
Aber selbst das kam ihm sinnlos vor. Er wußte, daß es eine Lüge war. Dasselbe galt für alle anderen in der Morij-Burg, besonders für Erij, ganz besonders für ihn. Vanye blieb im Bett, bis die Diener Waschwasser brachten, und diesmal lag ein Rasiermesser dabei; dankbar machte er Gebrauch davon. Dann zog er die Sachen aus, in denen er geschlafen hatte, und wusch seine geringfügigen Wunden, ehe er sich die frische Kleidung überstreifte, die die Diener mitgebracht hatten. In einer morbiden Anwandlung spielte er mit dem Gedanken, sich dasselbe anzutun, was Nhi Rijan ihm angetan hatte – sich die Haare abzuschneiden, die im zweijährigen Exil nachgewachsen waren; plötzlich raffte er es mit der Hand zusammen, unter den schockierten Blicken der Diener, die ihn nicht aufhielten.
Über solche Dinge entschied ein Krieger, und ob es
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