Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
Rohs ferne Gestalt.
»Ich sage dir etwas«, begann sie leise, »wenn mir etwas zustößt, brauchst du dieses Wissen vielleicht. Du kannst nicht lesen, was auf der Klinge steht. Aber darin liegt der Schlüssel. Chan hielt es fest, aus Sorge, daß wir alle sterben würden oder eine neue Generation hervorbringen müßten – in der Hoffnung, Ivrel dann immer noch schließen zu können. Wenn es nicht anders geht, mußt du das Schwert in Ra-hjemur einsetzen – sein Feld, auf die eigene Energiequelle gerichtet, würde alle Tore vernichten. Dieselbe Wirkung ergäbe sich, wenn man sie ins Tor wirft: zieh es aus der Scheide und schleudere es durch. Beide Wege wären ausreichend.«
»Was besagen die Zeichen darauf?«
»Sie verraten mehr über die Tore, als ich verbreitet sehen möchte. Deshalb behalte ich die Waffe immer bei mir. Sie kann nur durch die Tore vernichtet werden. Ich wage sie nicht zu vernichten. Es war Wahnsinn von Chan, so ein Ding herzustellen. Das Risiko war zu groß. Wir alle warnten ihn, daß das
qujalin-
Wissen nichts für uns sei. Aber das Schwert besteht nun einmal und kann nicht aus der Welt geschafft werden.«
»Außer durch die Zauberfeuer.«
»Außer durch die Zauberfeuer.«
Nachdem sie eine Weile geritten waren: »Vanye, du bist ein mutiger Mann. Ich bin dir Offenheit schuldig: Wenn du
Wechselbalg
einsetzt, wie ich es dir gesagt habe, wirst du sterben.«
Kälte kroch durch seinen Körper – Selbsterkenntnis. »Ich bin kein mutiger Mann,
liyo.«
»Da bin ich anderer Meinung. Kannst du den Eid halten?« Er konzentrierte seine Gedanken, die verstreut und verwirrt waren angesichts der Wahrheit, die sie ihm eröffnet hatte. Er reagierte seltsam ruhig darauf; was er von Anfang an gewußt hatte, fand seinen ihm gemäßen Platz.
»Ich bleibe meinem Eid treu«, sagte er schlicht.
»Er kommt«, sagte Vanye erleichtert. Schnee knirschte unter Füßen, noch ein Stück von der Stelle entfernt, an der sie gehalten hatten, hinter einigen Bäumen, hinter einem Berghang. Es war dunkel. Sie waren von Schnee umgeben, sternenhell bis auf die Schatten der Pinien. Sie hatten Roh schon vor einiger Zeit aus den Augen verloren.
»Laß mich zu ihm reiten.«
»Du bleibst, wo du bist«, sagte sie. »Wenn es Roh ist, schafft er es.«
Nach einiger Zeit kam Roh tatsächlich in Sicht, ein bloßer Schemen zwischen den gezackten Schatten der Pinien am unteren Hang. Er taumelte vor Erschöpfung.
»Reite zu ihm«, sagte Morgaine jetzt, das einzige Entgegenkommen, das sie dem Bogenschützen für seine Mühe bewies.
Vanye kam dieser Aufforderung freudig nach. Auf halber Höhe des Hangs erreichte er Roh, zügelte sein Pferd, bot Steigbügel und Hand.
Rohs Gesicht war angespannt, seine Lippen klafften offen, sein Frostatem bildete große Wolken. Einen Augenblick lang dachte Vanye, Roh würde seine Freundlichkeit nicht annehmen: Zorn tobte in dem Mann. Aber dann stieg er ab und half seinem Cousin hinauf und stieg dahinter in den Sattel. Roh sank gegen ihn. Vanye ließ das Pferd langsam bergauf gehen, denn die Luft wurde dünn hier oben und schmerzte in den Lungen.
»Dies ist der richtige Lagerplatz«, sagte Morgaine, als sie sie erreichten. »Man kann ihn verteidigen.« Sie deutete auf eine Stelle zwischen Felsen und Unterholz. Vanye mußte ihr beipflichten. Morgaine hatte ein Auge für solche Dinge – woher, das blieb ihr Geheimnis.
»Heute abend sollten wir lieber kein Feuer machen«, sagte Vanye.
»Da hast du recht«, antwortete sie. Dann glitt sie vom Pferd, streifte sich
Wechselbalgs
Gurt über die Schulter und begann den Sattel abzunehmen. Niedergeschlagen klopfte Siptah die gefrorene Erde mit den Hufen ab. Sie hatten noch etwas Korn von den Mönchen, ebenso Nahrung für die Reiter. Dies sollte kein entbehrungsreiches Lager sein, wie so manchmal in Aenor-Pywn.
Vanye ließ Roh zu Boden gleiten und stieg ebenfalls ab. Der Bogenschütze stürzte, versuchte sich aber sofort aufzurappeln, doch schon kniete Vanye nieder und bot ihm etwas zu trinken an; die Flüssigkeit war nicht gefroren, denn die Flasche hatte auf dem warmen Fell des Pferds gehangen. Dann begann er den Mann warmzurubbeln. Rohs Gliedmaßen waren von Erfrierungen bedroht, besonders die Füße. Er war für eine solche Expedition nicht angezogen.
Morgaine bückte sich stumm und tauschte mit Roh den Mantel; der Bogenschütze nickte dankbar, dabei herrschte in seinem Blick eine derartige Mischung von Dank und Zorn, daß man nicht zu sagen wußte, was die
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