Morgaine 1 - Das Tor von Ivrel
zu reiten.
Für Vanye galt dasselbe. Im Kampf durfte sein Pferd nicht behindert sein. Kam es zur Flucht, verpflichtete ihn sein Eid, an Morgaines Seite zu bleiben – und bei doppelter Last schaffte es das Pferd nicht. Außerdem durfte er es nicht zulassen, daß sich das Tier vor einem kritischen Augenblick verausgabte.
»Roh!« flehte er seinen Cousin an. »Das ist dein Tod!«
Roh antwortete nicht, sondern rückte sich das Gepäck auf der Schulter zurecht und marschierte los. Als Chya konnte er sicher große Strecken in schnellem Tempo zurücklegen; trotzdem mußte er wissen, daß er mit ziemlicher Sicherheit sein Leben aufs Spiel setzte.
Hätte er darüber entscheiden können, überlegte Vanye, wäre er in vollem Galopp losgeritten, damit Roh sofort erkannte, daß er nicht Schritt halten konnte, und den verrückten Plan aufgab; aber diese Entscheidung lag nicht bei ihm. Morgaine ließ ihr Pferd im Schritt gehen. Dieses Tempo bestimmte sie: und zur Mittagszeit vermochte Roh sie einzuholen und das Essen mit ihnen zu teilen – dies gewährte sie ihm wortlos –, als sie weiterritten, fiel er jedoch sofort wieder zurück.
Obgleich die Gegend nicht mehr sicher war, bot das Land auf weite Strecken noch einen herrlichen Anblick; als aber die Bäume des Tieflandes von Pinien abgelöst wurden und sie schneebedecktes Terrain erreichten, litt Vanye mit Roh und drehte sich oft um nach ihm.
»Liyo«,
sagte er. »Laß mich absteigen und ein Stück zu Fuß gehen, damit er reiten kann. Das wird das Pferd nicht weiter ermüden.«
»Es war seine Entscheidung«, antwortete sie. »Wenn wir in einen Hinterhalt geraten, sollst du und nicht er neben mir sein. Nein. Du steigst nicht ab.«
»Traust du ihm nicht,
liyo
? Wir haben in Ra-koris unter seinem Dach geschlafen, schon damals hatte er Gelegenheit, uns zu schaden.«
»Das ist richtig«, erwiderte sie, »und von allen Männern in Andur-Kursh traue ich Roh nach dir am meisten. Aber du weißt, wie wenig Vertrauen ich zu verschenken habe – und Großzügigkeit kann ich mir erst recht nicht leisten.«
Und er dachte an die Nacht und den Tag, die er ihr noch dienen mußte, und an ihre Worte, daß sie sterben würde. Das stimmte ihn traurig, und eine Zeitlang dachte er nicht an Roh, sondern stellte sich vor, daß etwas sie belasten müsse.
»Vanye«, sagte sie. »Du wirst es schwer haben, nach meinem Fortgang Hjemur zu verlassen. Es wäre gut, wenn du ein Ziel hättest. Was willst du tun? Nhi Erij wird dir meine Tat nie verzeihen.«
»Ich weiß nicht, was ich tun werde«, sagte er niedergeschlagen. »Chya könnte ein Ziel sein, ja, Chya, wenn nur Roh und ich dieses Abenteuer lebendig überstünden.«
»Ich wünsche euch alles Gute«, sagte sie leise.
»Mußt du sterben?« fragte er.
In ihren Augen stand ein ungewöhnlich weicher Ausdruck.
»Wenn ich es mir aussuchen kann, nicht«, antwortete sie. »Aber wenn ich sterbe, bist du noch nicht frei. Du weißt, was du dann tun mußt: Thiye töten. Und dabei kann dir Roh vielleicht dienen: laß ihn also ruhig folgen. Aber wenn ich überlebe, muß ich trotzdem durch das Tor von Ivrel schreiten und es dadurch schließen. Dann ist es mit Thiye ebenfalls aus. Ist Ivrel geschlossen, erlöschen alle anderen Tore auf dieser Welt. Und ohne die Tore kann Thiye sein unnatürliches Leben nicht fortsetzen: er wird leben, bis sein Körper verfällt, und wird keinen neuen übernehmen können. Das gleiche gilt für Liell und für jedes andere üble Wesen, das sich mit Hilfe der Tore am Leben hält.«
»Und was ist mit dir?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wo ich sein werde.
An einem anderen Ort. Oder zerstreut wie die Männer in den Kath Svejur. Wissen kann ich das erst, wenn ich das Tor passiere, an der Stelle, wo ich es dazu bringen kann, mich aufzunehmen. Das ist meine Aufgabe – Tore versiegeln. Ich werde dieses Ziel verfolgen, bis es keine Tore mehr gibt – und das werde ich wohl erst wissen, fürchte ich, wenn ich durch das letzte trete und nichts mehr vor mir habe.«
Er versuchte zu begreifen, was sie ihm da erzählte, konnte aber kein klares Bild gewinnen und erschauderte. Er wußte nicht, was er ihr sagen sollte, denn er wußte nicht, was das bedeutete.
»Vanye«, sagte sie. »Du hast
Wechselbalg
blank in der Hand gehabt. Du hast große Angst davor.«
»Aye«, bestätigte er. Abscheu klang aus seiner Stimme. Ihre grauen Augen musterten ihn von Kopf bis Fuß, dann warf sie einen hastigen Blick über die Schulter auf
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