Morgen des Zorns
rechtzeitig wechselte, indem sie eine wichtigere, aufregendere Angelegenheit aufwarf und so die Aufmerksamkeit von der peinlichen Situation ablenkte.
Auch Samîhs Mutter hatte ihm geraten, nicht auf das Geschwätz der Frauen zu hören, sonst würden sie ihn hinters Licht führen. Seine Mutter war nur einen Monat nach seinem Vater gestorben. Sie hatte nicht ohne ihn leben können. So hatten es zumindest die Frauen in der Backstube gesagt. Obwohl sie wussten, dass die Mutter sie nie gemocht hatte, wollten sie mit diesen Worten ihrer Treue Anerkennung zollen.
Samîh war der einzige Sohn. Sie hatten ihm die Backstube hinterlassen und das Haus, das heißt, zwei Zimmer. Das war ihr ganzer Besitz gewesen. Das Haus grenzte direkt an die Backstube, wahrscheinlich hatte Samîhs Vater oder Großvater früher einmal einen Teil des Hauses in diese Backstube umgewandelt. Die Hitze des Ofens drang durch die Mauer, die die Backstube vom elterlichen Schlafzimmer trennte. Zweimal im Jahr strich er die Wand, doch immer wieder blätterte die Farbe der starken Hitze wegen ab. Samîh war in diesem Zimmer geboren worden, und seine Eltern waren beide darin gestorben, in genau diesem Schlafzimmer, das an den Ofen grenzte. Außer ihm war ihnen kein weiteres Kind geschenkt worden. Sie hatten zwar noch eine Tochter bekommen, doch die war bereits als Säugling an den Masern gestorben. Die Mutter hatte in ihrer Trauer einen einzigen Schrei ausgestoßen, dann war sie wieder still geworden; und genauso hatte sie es gemacht, als ihr Mann gestorben war. Nur ein einziger lauter Schrei.
Nach ihrem Tod ließ Samîh das Zimmer seiner Eltern unberührt. Ein bescheidener Kleiderschrank, zwei Formica-Betten und das Foto eines Mannes mit düsteren Gesichtszügen, das an der Wand hing und bereits zur Hälfte von der Hitze zerfressen war. Sein Vater hatte gesagt, dieser Mann sei sein Großvater, er sei Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten gereist und habe Samîhs Großmutter als junge Frau und Samîhs Vater als Säugling zurückgelassen. Er war nie wiedergekommen. Er sei nach Tripolis hinuntergefahren, um dort Leder zu kaufen, aus dem er Schuhe fertigte, doch er sei nicht zurückgekommen. Ihm musste wohl etwas zugestoßen sein – ein Unfall oder ein Streit –, was ihn daran gehindert hatte, ins Dorf zurückzukehren. Deshalb hatte er sich gezwungenermaßen vom Hafen der Stadt aus direkt eingeschifft.
Samîh hatte in dem Zimmer nichts angerührt, er hatte noch nicht einmal eine Decke vom Bett genommen, bis jemand zu ihm sagte, er müsse von Zeit zu Zeit Fenster und Tür öffnen, um Luft und Licht hereinzulassen; andernfalls würde die Feuchtigkeit ihr Unwesen treiben. Samîh hatte sich mit dem anderen Raum begnügt und mit der Küche und der kleinen Freifläche vor dem Eingang. Wenn er seine Arbeit in der Backstube beendet hatte, zog er sich um, stellte einen Stuhl vor den Eingang und ließ sich darauf nieder. Er schaue immer zum Haus eines Mädchens hinüber, das er angeblich liebte, das von seiner tiefen Leidenschaft jedoch nichts ahne. Er sagte selbst, dass er das Mädchen liebe, doch alles, was er tat, war, hier zu sitzen, auf dem Korbstuhl, in der linken Hand drei Murmeln, die größer waren als jene, mit denen die Kinder spielten. Zwei oder drei Stunden blieb er dort sitzen, je nachdem, wie lang der Tag war. Unermüdlich rollte er die Murmeln in den Fingern hin und her und blickte in Richtung des Balkons der jungen Frau; vielleicht würde er sie ja beim Wäscheaufhängen erblicken oder sie schemenhaft hinter der Fensterscheibe ausmachen. Wegen ihr, so erzählte man sich, sei er im Viertel der Samaani-Familie geblieben …
Die Worte seines Vaters und seiner Mutter waren ihm heilig. Bösartiger noch als die Männer seien die Frauen, hatte seine Mutter zu ihm gesagt. In zwei Reihen saßen sie einander in ihren abgewetzten Hauskleidern in der Backstube an dem niedrigen glatten Steintisch gegenüber. Bereit zum Angriff, die Beine ausgestreckt und die Hände unablässig in Bewegung. Hände und Zungen. Die Hände nahmen einen Klumpen Teig, kneteten, walkten ihn auf der Oberfläche des Steintisches, bis sie ihn in einen Fladen verwandelt hatten, dann streuten sie ein wenig Mehl darauf und begannen damit, ihn auszuwalzen. Zuerst arbeitete nur die rechte Hand – solange der Haufen noch rund war wie ein Ball –, dann, wenn der Fladen allmählich platt wurde, beide Hände, und schließlich führte das Nudelholz zu Ende, was die
Weitere Kostenlose Bücher