Morgen des Zorns
Kopf mit der Hand stützen sollte. Einen ganzen Monat lang blieb sie bei ihr zu Hause und lehrte sie alles, was sie wusste. Ihre Mutter war so sehr mit der Gesundheit des Jungen beschäftigt, dass sie kaum die Zeit fand, sich über ihn zu freuen. Dann erkrankte sie an einer schweren Lungenentzündung. Als man sie ins Krankenhaus brachte und einen Priester rief, war Elia noch weit davon entfernt, das Wort »Oma« auszusprechen.
Seine Ausstattung war komplett. Die Windeln, die Kleidung, sogar die Schuhe. Sie hatte gar nichts mehr kaufen müssen. Sie wusch seine Kleider und hängte sie nicht auf dem Balkon auf, sondern auf einer Leine, die sie im Haus gespannt hatte.
Sie würde sich nicht in aller Öffentlichkeit mit ihm zeigen.
Trotzdem war sie von Klatsch und Tratsch umzingelt. Alle waren sie zu Schwangerschaftsexperten geworden und zu Experten für »Mond-Monate«. Nach einem Skandal lechzend, stellten sie Berechnungen an. Sie trieben sie in die Enge, die ersten Zweifel fanden ihre Bestätigung.
Obwohl sie sich versteckt hielt, drang das Gerede doch an ihr Ohr. Sie nannte ihn Elia, in Anlehnung an den letzten Heiligen, den sie angefleht hatte; als gutes Omen. Die Heiligen hatten über sie gesiegt. Sie hatte geglaubt, sie hätte sich von ihrer Schuld ihnen gegenüber befreit. Sie hatte zwischen Jûssef, dem Namen seines Vaters, und zwischen Elia geschwankt. Kâmleh fürchtete sich vor dem heiligen Elias, seine Rache würde womöglich schrecklich sein.
Wenn sie den Jungen nur nehmen und mit ihm fortfliegen könnte. Wie ein weißer Schwan, der seine großen Flügel ausbreitet. Sie würde ihn im Schlaf mit dem Schnabel an der Windel packen. Mit seinen rosigen Wangen und den süßen Händchen, die kleinen Füße würden in der Luft baumeln, sie würde mit ihm bis ans Ende der Welt fliegen, in ein Land, in dem sie niemanden kannte. Sie würde von einer ihr unbekannten Stimme geleitet werden, der Stimme eines Mannes, die der ihres Vaters ähnelte. Dann legte sie ihn hoch in den Bergen in ein Nest in einer Felsspalte, weit weg von den Blicken und den wilden Tieren. Sie würde jeden Tag in den Krieg ziehen und ihm bei ihrer Rückkehr etwas zu essen mitbringen. Sie würde kämpfen, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, mit ihrem Schnabel, ihren Flügeln und ihren Füßen. Sie wäre durch eine Verwundung geschwächt, aber sie würde nicht sterben. Ihre Feinde wären überall, in der Luft, hinter den Felsen, im Sand und auf den Wogen des Meeres. Als Elia vor Hunger zu weinen begann, wachte sie auf. Sie gab ihm die Brust, dann sanken beide erneut in Schlaf. Nach dieser Nacht kehrte der weiße Schwan nie wieder zu ihr zurück.
Elia wuchs heran und besuchte die Schule, schmal war er, von schwacher Konstitution, und er hatte schlechte Augen. Sie begleitete ihn ins Klassenzimmer, in den gleichen Raum, aus dem sie ihr Vater eines Tages herausgeholt hatte. Sie wollte wissen, welcher Junge neben ihm sitzen würde, sie wollte wissen, wer dessen Vater und wer die Mutter war.
– Du schlägst ihn nicht, hörst du?, sagte sie zu dem Buben.
Von Anfang an wurde Elia in der Schule mit Lob überhäuft. Klug ist er, sagte die Nonne, die für die Kleinen verantwortlich war. Er war der Beste in seiner Klasse, in allen Fächern. Sie untersagte ihm den Sportunterricht, verlangte eine Sondergenehmigung der Verwaltung, die ihn vom Sport entband. Sie zeigte auf ihn und sagte:
– Sehen Sie nicht, wie hager er ist?
Muntaha sagte, er ähnele ihr. Kâmleh schaute ihn immer wieder lange an, aber sie konnte keine Ähnlichkeit feststellen.
Schon bald wurde er von aller Augen verfolgt. Und auch von den Zungen. Als er zu verstehen begann, machten sie ihre Andeutungen in seiner Gegenwart. Das Gerede lag schon auf den Zungen bereit und wartete nur darauf, ausgespuckt zu werden.
Es lag auf den Zungen der Frauen. Besonders denen der alten Jungfern. Sie stellten dem kleinen Elia in den Straßen nach. Die Hände in die Hüften gestützt und mit verlogener Miene fragte ihn eine Frau:
– Wessen Sohn bist du denn, mein Junge?
Er verstand ihre Frage nicht. Sie irritierte ihn, er wusste nicht, was er antworten sollte.
Die Frau lächelte, fragte ihn nach seinem Namen. Er antwortete. Dann stellte sie ihm die Frage wieder:
– Wessen Sohn bist du, Elia?
Er schaute sie aus großen Augen an und entgegnete nichts. Die Frau wandte sich von ihm ab. Das Schweigen des Kindes war Eingeständnis genug.
Seiner Mutter erzählte er nichts, doch sie wusste
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