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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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Vorfall von Burdsch al-Hawa konnten alle, die nicht direkt darin verwickelt gewesen waren, die Linie überschreiten, doch als die Barrikaden errichtet wurden, wurde es immer schwieriger. Man hätte meinen können, ein tiefer Graben trennte die beiden Viertel nun voneinander. Als die Auseinandersetzungen ihr Ende fanden, wurde der Oberbefehlshaber des Militärs mit Zustimmung des amerikanischen Sondergesandten im Libanon, Murphy, und dem ägyptischen Präsidenten Gamâl Abdel Nasser zum Präsidenten der Republik gewählt und eine Regierung der nationalen Einheit gebildet, die das Militär erneut in den Ort schickte. Nach acht Monaten wurden die Barrikaden abgetragen; während dieser Zeit war die »Demarkationslinie« nicht einen Deut verschoben worden.
    Er hieß Samîh al-Râmi. Das Haus seines Vaters und die angrenzende Backstube lagen im Viertel der Samaani-Familie, fünfhundert Meter von der ersten offiziellen Mittelschule für Mädchen entfernt. Die »Demarkationslinie« war mitten durch die Schule verlaufen, keine der beiden Parteien hatte es geschafft, sich dort zu verschanzen.
    Anfangs zeigte Samîh keinerlei Anzeichen von Beunruhigung. Es war, als würde er sich auf eine unsichtbare Macht verlassen, die ihn beschützte und die allgegenwärtige Gefahr von ihm fernhielt. Sogar die Mitglieder der Samaani-Familie, und selbst ihre Frauen, denen nichts verborgen blieb, hatten vergessen, dass er eigentlich ein Râmi war. Immer wenn sich die Lage zuspitzte, der Druck größer wurde, beschimpften die Frauen in der Backstube seine Familie, während sie den Teig dünn und dünner walzten, ohne eine Antwort von ihm zu erwarten. Ihn aber ärgerten nur die Stimmen, die ihn von der Barrikade auf der anderen Seite her riefen, wo sich die bewaffneten Männer seiner Familie verschanzt hatten. Jene Stimmen, von denen er einige kannte und die ihn manchmal aufforderten, das Viertel der Samaani-Familie zu verlassen und zu ihnen zu kommen.
    – Die werden dich umbringen, Samîh, die haben kein Gewissen und keine Religion!
    Er bat Pater Bûlos, den Männern seiner Familie auf der anderen Seite auszurichten, dass es ihm gutgehe und dass sie sich keine Sorgen um ihn machen müssten. Ganz besonders aber schärfte er ihm ein, ihnen zu sagen, sie dürften ihn nicht mehr rufen, um nicht die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Von da an hörten sie zwar auf, sich lautstark nach ihm zu erkundigen, doch immer war da jemand von den nahe gelegenen Barrikaden der Râmi-Familie, der sich, in der Hoffnung, Samîh aus seiner Backstube kommen oder sie betreten zu sehen, ein paar Meter vorwärtsschlich – einfach um sich zu vergewissern, dass er noch am Leben war und seiner Arbeit nachging.
    Es änderte sich nicht viel in Samîhs Alltag. Nur der sonntägliche Spaziergang fiel weg, dieses kurze Stolzieren in Richtung Hauptstraße, auf der keine Fahrradfahrer mit seltsamen Kappen und bunten Trikots mehr vorbeiradelten und die sowohl von den Mädchen wie auch von den amerikanischen und deutschen Automobilen verlassen worden war. In der Backstube konzentrierte er sich noch stärker als sonst auf den Ofen. Um sich einer Reaktion auf das Gerede der Frauen entziehen zu können, beugte er sich nicht mehr über die Brotfladen, sondern steckte den Kopf so weit wie möglich in die Ofenöffnung hinein, so dass er gar nicht erst hören musste, was die Frauen tratschten. Besonders wenn die Nachricht vom Tod eines Mitglieds der Samaani-Familie an der Barrikade die Runde machte oder, und das war das Schrecklichste, wenn einer ihrer unbewaffneten jungen Männer Opfer eines Hinterhalts geworden war, den man ihm außerhalb des Ortes gestellt hatte. Weil die Frauen niemanden mit ihren bösen Zungen verschonten und weil sich in ihr Geschwätz Verwünschungen mischten. Im Allgemeinen sprachen sie ihn nicht unmittelbar an, auch wenn es von Zeit zu Zeit geschehen konnte, dass eine Frau ihm tief in die Augen blickte und geradewegs zu ihm sagte:
    – Deine Cousins haben gestern das Haus von Iljâs al-Samaani ausgeraubt und in die Luft gesprengt – möge Gott ihre Häuser zerstören!
    Samîh hob dann seine Augen zum Himmel, ergeben, als Zeichen dafür, dass er mit alldem nichts zu tun hatte. Samîh war ein Einzelkind, der Vater war ein Einzelkind gewesen und ebenso der Großvater. Es gab keine direkten Verwandten, keine väterlichen Cousins der Râmi-Familie, die eine mächtige Bastion hätten darstellen können. Alles was sie über sich selbst wussten, war, dass sie zur

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