Morgen des Zorns
amerikanischen Autos oder die deutschen Mercedeswagen, die seit einiger Zeit vermehrt zu sehen waren. Er folgte ihnen mit den Augen, bis sie hinter einer Kurve verschwunden waren. Die Mädchen, die längs der Hauptstraße entlangspazierten, Hand in Hand, tuschelnd und kichernd, sobald die Jungs sie in den Blick nahmen oder Anspielungen machten. Ein Heiratsumzug oder ein Fahrradrennen. Er lächelte, wenn der erste Fahrer auftauchte, professionell über sein Lenkrad gebeugt. Samîh trat ein wenig näher an den Brunnen heran, wo die bunt gekleideten Fahrer die Geschwindigkeit drosselten, um aus den Händen der dort wartenden Helfer eine Flasche Wasser oder ein Sandwich entgegenzunehmen. Das würde ihnen dabei helfen, die lange Strecke zu bezwingen. Er wusste, dass sie mit ihren kleinen Fahrrädern in die Berge hochradeln würden. Er wartete, bis die letzten Rennfahrer vom armenischen Homentmen-Club vorbeifuhren, und klatschte ihnen begeistert zu. Er war der einzige, der in diesem Augenblick applaudierte, da niemand damit gerechnet hatte. So brach das Publikum in lautes Gelächter aus, während er feierlich mit lauter Stimme den auf dem Bürgersteig versammelten Zuschauern zurief:
– Das Rennen ist vorbei, jetzt könnt ihr wieder nach Hause gehen!
An dem Tag, an dem sich die Araber in zwei Parteien spalteten, befand sich Samîhs Haus auf der falschen Seite. Aber er verließ es nicht. Ihm wurde geraten, sich seinem »Clan« anzuschließen, wie man in Anlehnung an die Wüstenstämme sagte, doch er lehnte ab. Das ist mein Haus, und es ist das Haus meines Vaters und meines Großvaters, und ich werde dort bleiben, entgegnete er. Ich habe niemandem etwas zuleide getan, alle mögen mich und alle zählen zu meinen Kunden. Er blieb in dem Haus, das nur fünfhundert Meter von der Grenze des Viertels seiner Familie entfernt lag. Als die Schusswechsel einsetzten, ganz zu Beginn der Ereignisse, erkundigten sich die Männer seiner Familie aus dem Schutz ihrer Barrikaden heraus manchmal laut vernehmlich nach seiner Gesundheit. Obwohl er sie ganz deutlich hören konnte, hütete Samîh sich, eine Antwort zu geben. Wenn er jemanden seinen Namen rufen hörte, während er sich außer Haus aufhielt, lief er rasch hinein und schloss die Tür ganz fest hinter sich zu. Samîh blieb auf der falschen Seite der Demarkationslinie.
Damals hieß sie noch nicht Demarkationslinie. Dies ist ein späterer hochsprachlicher Ausdruck, mit dem die Zeitungen in Beirut die Gefechtslinie bezeichneten, welche die Hauptstadt zwei Jahrzehnte später teilen sollte. Sie verlief von den Hügeln oberhalb der Stadt über die nach Damaskus führende Straße hinunter bis hin zum Hafen. Bei uns hatte sie noch keinen Namen besessen, wahrscheinlich waren wir einfach noch nicht auf die Idee gekommen, diese imaginäre Linie, die das Viertel der Samaani-Familie im Süden von dem der Râmi-Viertel im Norden der Ortschaft trennte, zu benennen, selbst wenn sie so deutlich gezeichnet war wie ein dicker Strich. Alle Leute aus dem Ort kannten sie und wussten genau, wo sie entlanglief, wo sie abbog und wo sie sich in einer identitätslosen Leere verlor. So wie die Bevölkerungsverteilung es bestimmte, gab die Demarkationslinie der Samaani-Familie die Macht über den westlichen Ausgang des Ortes in Richtung Stadt, während die Râmi-Familie den östlichen Ausgang beherrschte, der zu den hochgelegenen Dörfern führte. Die Küste gehörte ihnen und das Hinterland uns. Doch sobald die Linie sich durch die überfüllten Viertel und die alten vermoderten Straßen schlängelte, wurde es kompliziert, denn sie wand sich um eine Anhäufung von Behausungen in jene Höhe, deren Bewohner durch die reine Anzahl ihrer Männer und mit der Macht ihrer Waffen standgehalten hatten, so dass das Viertel der Samaani-Familie sich nun nach oben hin noch ausdehnte. Oder die Linie ließ verlassene Gebiete zwischen den beiden Vierteln entstehen, wo man nicht mehr wohnen konnte, weil sie von den Barrikaden der anderen Seite einsehbar waren. Auf jeden Fall hatte sich jene Linie in die Köpfe der Bewohner eingegraben, der jungen wie der alten. Jeder wusste: Gingen sie nur zehn Schritte zu weit in diese oder jene Richtung, dann würden sie von einem Viertel ins andere hinüberwechseln. Nicht die Hauptstraße war die Scheidelinie, die Sache war viel komplizierter, weshalb es so schwerfiel, die Lage Fremden zu erklären. Die Linie entstand auch erst allmählich, mit den zunehmenden Spannungen. Noch nach dem
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