Morgen des Zorns
lassen, sie möchte nicht sehen, was ihre Augen sagen, was noch immer in ihren Augen geschrieben steht. Was in ihren Worten mitschwingt, genügt ihr vollauf. Vielleicht hat ihre Sehkraft ja genau deshalb abgenommen, damit sie sie nicht mehr sehen muss. Sie will sie nicht sehen, und sie will nicht, dass Elia nach Hause zurückkommt. Je weiter er von ihr entfernt ist, desto leichter ist die Welt für sie zu ertragen, für sie und für ihn. Solange sie allein war, hielt sie den anderen stand, da war sie nicht unterzukriegen, doch mit ihm in ihrer Nähe war sie unfähig, auf die Anfeindungen zu reagieren.
XVII
Samîh war der einzige Mann unter all den Frauen. In einer Backstube gab es immer nur einen Mann. Er leitete die Zeremonie und stellte sich für die Frauen neben den Backofen. Vom Morgengrauen an, wenn sie mit ihrem Teig auf dem Kopf in der Backstube eintrafen, bis zum Augenblick, wenn sie die Backstube kurz vor Mittag verließen, die runden Fladen vor sich her tragend, auf denen sich kleine Bläschen gebildet hatten. Der Anblick der heißen Fladen ließ einem das Wasser im Munde zusammenlaufen, man wünschte sich nur noch Öl und Salz dazu und sonst gar nichts.
Er hatte seinen Vater überflügelt.
Das weiße, besonders große Brot wurde sogar nach ihm benannt.
– Das ist Samîh-Brot, hieß es anerkennend.
Das Brot, dessen Teig seine Hände geknetet hatte, war dünn und ließ sich in der Mitte auseinanderreißen; in zwei Teile, so zart wie die Hostie in der Kirche. Samîhs Augen waren aufs Feuer gerichtet, er wendete die Fladen und zog sie genau im richtigen Moment heraus. Alles in diesem Metier beruhte auf Schätzung. Samîh holte die Fladen genau in jenem Augenblick aus dem Ofen, wenn er einen schwachen Geruch von Verbranntem wahrnahm. Der war zwingend erforderlich, damit das Brot nicht teigig blieb. Ein Geruch, den er schon Sekunden vorher spürte, noch bevor das Brot ihn selbst annahm, in genau jenem flüchtigen Augenblick zwischen dem Anbrennen – wofür er gegebenenfalls den Preis würde zahlen müssen – und der Bildung kleiner schwarzer Punkte auf der Oberfläche des von der Flamme des Ofens beschienenen Brotfladens.
Samîhs Brot war goldbraun gebacken, es kam rund aufgebläht aus dem Ofen, und wenn wir unsere Mütter in den Ferien begleiteten, hatten wir nur den einen Wunsch, ein kleines Loch in das aufgeblähte Brot zu reißen, das Samîh uns hinwarf, um uns an dem Anblick des Dampfes zu ergötzen, der dann wie aus einem rauchenden Schornstein aufstieg, bevor der Fladen wieder in sich zusammenfiel.
Samîhs Augen waren auf das Feuer gerichtet. Sein Lebensunterhalt hing vom Feuer ab. Sein Vater hatte gekonnt das Geschwätz der Frauen überhört. Hätte er einer Frau in der Backstube auch nur ein einziges Mal auf ihr Gerede geantwortet, hatte er einmal gesagt, so hätte er als Strafe für seine Gedankenlosigkeit sicher unweigerlich etwas im Ofen anbrennen lassen, da gab es kein Vertun. Samîh hatte sich an diese Maxime gehalten, entweder hast du deine Augen hier oder dort.
Und die Frauen hörten niemals auf mit ihrem Geschwätz. Sie hatten sprichwörtlich nicht mal Zeit, eine Pause zu machen. Wenn eine von ihnen einmal wortkarg war, wussten die anderen sogleich, dass sie etwas auf dem Herzen hatte, finanzielle Sorgen, eine Krankheit. Dann prasselten die Fragen so lange auf jene ein, bis sie ihnen ihr Herz ausschüttete. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Manchmal tauschten sie auch nur Banalitäten aus, die niemandem schadeten, zur Vorbereitung sozusagen. Binsenweisheiten, mit denen die morgendliche Sitzung eröffnet wurde – wie wichtig zum Beispiel in diesen unseren Tagen die Schulbildung war, sogar für Mädchen; dass man die Nachbarschaft heilig halten müsse; oder dass der Junge zu seiner Familie gehöre und das Mädchen zur Familie des Ehemannes, oder vielleicht auch umgekehrt –, bevor sich die Frauen eine bestimmte Person vornahmen, ohne zu wissen, wie sie ausgerechnet auf diese gekommen waren. Dann wurde es ernst. Nachdem sie sich mit einem eiligen Blick in die Runde versichert hatten, dass keine der um den Tisch sitzenden Frauen mit jener Person verwandtschaftlich verbunden war, lösten sich die Zungen. Es konnte aber auch zu Fehleinschätzungen kommen. Eine Frau begann etwa Neuigkeiten über jemanden auszuplaudern, nicht ahnend, dass diese Person und eine der Frauen in der Backstube entfernt miteinander verwandt waren. Immer aber gab es eine, die die Situation rettete und das Thema
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