Morgen des Zorns
diesem Fenster aus … Kommen Sie näher, kommen Sie ruhig! Was sehen Sie von hier aus? Die Gartenlaube und das rostfarbene Ziegeldach, nicht wahr? Das ist Ihr Haus, wahrscheinlich sind Sie es nicht gewohnt, es aus dieser Perspektive zu sehen. Und das sind die Blumen und die Ranken Ihrer Mutter Kâmleh. Die Leute glauben, dass unser Haus weit von Jûssef al-Kfûris Haus entfernt ist, aber da liegen sie falsch. Sehen Sie, hier trennt uns kein Steinwurf voneinander. Sie sind unsere nächsten Nachbarn. Aber wenn wir Sie besuchen wollen, müssen wir mittlerweile die Hauptstraße entlanglaufen und uns dann von der Kirche aus hochschlagen. Ein weiter Weg, und ich gehe ehrlich gesagt nicht gerne dort lang. Den ganzen Tag über – und in den lauen Sommernächten sogar bis Mitternacht – treiben sich die Kinder auf der Straße herum. Sie sind frech, sie haben vor niemandem Respekt, und die Frauen, ihre Mütter, sind noch unverschämter. Die bleiben breitbeinig vor ihren Häusern und Läden auf den Hockern sitzen und warten nur auf jemanden, über den sie sich das Maul zerreißen können. Sie machen sich über mich lustig, weil ich auf Zehenspitzen gehe, wie sie sagen, aber das ist mir egal. So gehe ich eben, und ich werde das um ihrer schönen Augen willen bestimmt nicht ändern.
Früher sind wir zu Fuß durch diesen Hain zwischen unseren Häusern gegangen, um nach oben zu gelangen. Ein Feldweg am Rand des Hains, der niemanden gestört hat und uns den Umweg ersparte. Einige von uns haben sich auf dem Weg eine Clementine oder eine Mispel stibitzt, weil wir wussten, dass zum Ende der Saison alles in diesem verlassenen Garten verderben wird. Aber irgendwann hat irgend so ein Hurensohn die Besitzer des Grundstücks in Kenntnis gesetzt, die waren schon vor langer Zeit nach Mexiko ausgewandert. Er hat ihnen einen Brief geschrieben und die Situation so dargestellt, als ob ihr Grundstück hier geplündert würde. Die gehörten dort zu den richtig Reichen, die Baumwollkönige genannt wurden. Sie haben sich an einen ihrer weitentfernten Verwandten hier gewandt und ihn gebeten, den Hain zu umzäunen, damit wir ihn nicht mehr betreten und als Abkürzung benutzen können.
Ihre Mutter kennt die Geschichte, fragen Sie sie. Aber trotzdem drangen die Geräusche von Ihrem Balkon noch ganz deutlich zu uns herüber. Ich habe Sie von hier aus Akkordeon spielen gehört. Ich weiß noch, dass Sie französische Lieder liebten. Sogar wenn bei Ihnen auf dem Balkon jemand gehustet hat, haben wir es gehört. Und wenn es nachts still wurde, drangen sogar die Worte bis zu uns herüber, selbst wenn es sich nur um eine ganz normale Unterhaltung zwischen Kâmleh und Muntaha handelte, die mit Ihrer Mutter befreundet ist, seit sie hier im Viertel wohnt. Nachts werden die Geräusche weit getragen. Ihr Balkon wurde früher von den Nachbarn häufig aufgesucht, und ich habe mich in den letzten Tagen gefreut, als ich gesehen habe, dass sie wieder zu Ihnen gekommen sind, um Ihre Mutter anlässlich Ihres Besuchs zu beglückwünschen. Kâmleh hat nicht ihr ganzes Leben lang so zurückgezogen gelebt, aber die Dinge haben sich im Lauf der Jahre geändert, und in letzter Zeit ist sie meistens allein. Sie schneidet die Pflanzen, gießt sie und redet mit ihnen. Ihre Mutter wird böse auf die Blumen, wenn sie welken oder anfangen einzugehen. Dann schimpft sie sie aus, und manchmal singt sie. Wir können ihre Stimme von hier aus hören, wenn sie singt. Mittlerweile warten wir fast jede Nacht auf ihre traurige Stimme.
Ich habe ihre schöne Stimme, die trotz ihres Alters noch so kräftig war, immer bewundert, bis wir eines Tages erfahren haben – und das ist gar nicht so lange her –, dass es sich um eine Aufnahme handelte. Wussten Sie das? Sie hat ihren Gesang aufgenommen, um sich selbst zu lauschen. Wir haben ihre Stimme also all die Nächte vom Tonband gehört. Kâmleh hatte sich noch vor uns ein Tonband gekauft, aber das Radio haben wir vor ihr und früher als fast alle anderen Nachbarn im Viertel erworben. Sie waren noch gar nicht geboren, da hab ich schon hier gesessen. Meine Mutter hat mir jeden Morgen eine Tasse Kaffee auf dieses Tischchen gestellt, weil sie wusste, dass ich nach dem Aufstehen die meiste Zeit mit Radiohören und Rauchen hier verbringe.
Ich war ganz vernarrt ins Radio, ich mochte besonders die Lieder von Laila Murâd und Muhammad Abdulwahhâb. Und als die Hörspiele aufkamen, habe ich sie täglich gehört. Aber ich hab mich nicht getraut, das
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