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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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mehrten, und als dann auch noch die Glocke zu läuten anfing, da haben wir endgültig gewusst, dass etwas Schreckliches geschehen ist.
    – Herr, steh uns bei, es gibt viele Tote!, hat meine Mutter gesagt.
    Ich weiß auch nicht, woher sie geahnt hat, dass es viele Tote zu beklagen werden gibt.
    Ich wollte rausgehen, aber sie hat mich an der Hand festgehalten und gesagt:
    – Es geht uns nichts an, was da passiert!
    – Was passiert denn da?, habe ich sie gefragt.
    – Wir haben mit diesen Problemen nichts zu tun, Gott sei Dank!, entgegnete sie.
    Ich hatte von den »Problemen« gehört, aber ich kümmerte mich nicht darum, denn wir gehörten, wie meine Mutter sagte, zu einer kleinen Familie. Es gab nur zwei Häuser der Âssi-Familie im Ort. Wir, das heißt mein Vater, meine Mutter, meine Geschwister und ich, und die Familie von Khalîl al-Âssi, dem Schreiner. Seltsam war, dass wir nicht wussten, ob wir miteinander verwandt waren, aber weil wir den gleichen Namen trugen, umschmeichelten wir uns gegenseitig, riefen uns beispielsweise nur zum Spaß ein »Hallo Cousin« zu, wie die großen Familien es taten. Gleichzeitig aber blieben wir auf Abstand. Die Familie von Khalîl al-Âssi machte gemeinsame Sache mit der Râmi-Familie, und das war ihr gutes Recht. Schließlich wohnte sie mitten in deren Viertel. Aber wir wollten uns nicht an sie binden und als ihre Verwandten gelten und dadurch die Feindschaft der anderen heraufbeschwören. Mein Vater hatte uns erzählt, wie die Samaani-Familie meinem Großvater einmal angeboten hatte, den Namen Samaani an unseren Namen anzufügen oder Âssi ganz gegen Samaani zu tauschen; aber er hatte beides abgelehnt. Unser ganzes Leben war ein einziger Seiltanz, und meine Mutter hat nach allen Regeln der Kunst zu tanzen gewusst. Die erste dieser Regeln hieß: Vermeide es, bei Gefahr und in Krisensituationen durch die Straßen zu laufen, denn auf uns zu schießen hat für den Schützen keinerlei Konsequenzen und wird üblicherweise nur als »Missgeschick« bezeichnet.
    – Ich will nicht, dass ihr aus Versehen sterbt …
    So hatte sie gesagt. Wir sind mit einer speziellen Überzeugung aufgewachsen: Wir halten mit unserer Meinung hinter dem Berg, und wir tratschen keine Neuigkeiten oder Informationen weiter. Zu den Belehrungen meiner Mutter gehörte stets auch der Satz: »Wer dir das und das erzählt hat, hat dich beleidigt.« Deshalb sperrten wir zwar unsere Ohren auf, hielten uns aber bedeckt. Wir lauschten den Geräuschen und spekulierten darüber, was vor sich ging. Meine Eltern deuteten die Geräusche – die Stimmen der Menschen und das Sirren der Kugeln – und warteten auf die Folgen.
    Erstens, die »dumpfen« Schüsse sind aus einem verständlichen Grund beunruhigend: Sie werden zwar nur aus weiter Entfernung abgegeben und verursachen auch keinen Widerhall, aller Wahrscheinlichkeit nach aber werden sie unmittelbar auf das Ziel abgeschossen, und das Ziel ist vermutlich ein Mensch. Also ist die Wahrscheinlichkeit, dass auf eine »dumpfe« Kugel schlechte Nachrichten folgen, sehr groß. Dann gibt es die »Hochzeitskugeln« (sie werden sowohl in Innenräumen wie auch unter freiem Himmel abgefeuert). Man nennt sie so in Anlehnung an die Freude über eine Hochzeit. Es gibt unterschiedliche Gelegenheiten für Freudenschüsse, angefangen vom Erhalt eines offiziellen Diploms bis zur Geburt eines lange erwarteten Sohnes. Es kommt auch vor, dass jemand einen Schuss aus seinem Gewehr abgibt und das Krachen auf Band aufnimmt, das er dann seinem nach Australien ausgewanderten Bruder schickt, der dort, wie sein hier lebender Bruder vermutet, das Geräusch von Schüssen schmerzlich entbehren muss. Man erzählte sich auch, selbst wenn es nicht endgültig bestätigt wurde, dass Nachbarn und Verwandte von Abu Saîd eines Tages in die Luft zu schießen begonnen hätten – mit der Weigerung, den Grund für ihre Freude kundzutun. Das Geheimnis wurde erst Tage später dank einiger Frauen aufgedeckt. Sie hatten durchsickern lassen, dass Abu Saîd unter einem dauerhaft steifen Penis gelitten habe. Er sei vor Sorgen beinahe umgekommen und habe unzählige Ärzte aufgesucht. Und als er wieder »eingeschlafen« sei, wie sie sich ausdrückten, hätten die Familie und die Nachbarn vor Freude zu schießen begonnen. Außerdem gab es die »Dialogschüsse«. Das bedeutete, dass auf eine Salve, die abgegeben wurde, eine Antwort erfolgte. Das waren nicht die schlimmsten Geräusche, denn sie galten als Beweis dafür,

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