Morgen des Zorns
Radio laut zu stellen. Noch Jahre nach dem Vorfall von Burdsch al-Hawa habe ich es nicht gewagt, laut aufzudrehen. Ich hatte es dorthin gestellt, ins Wohnzimmer. Ich glaube, wir haben es so früh gekauft wegen Odette, meiner Cousine, die im Rundfunkchor in Beirut gesungen hat, wie man uns erzählte. Sie war für die Soli ausgewählt worden. Deswegen hatte meine Mutter Geld gespart und das Radio gekauft. Und wenn es so weit war, dass Odettes Partie übertragen wurde, dann versammelten sich die Nachbarn bei uns. Ihre Mutter stieß laute Freudentriller aus, und meine Mutter fiel in den Jubel ein, und auch Odette selbst saß dann oft bei uns.
Das war vor den Ereignissen. Danach haben alle Schwarz getragen, sie haben sogar aufgehört, den Weizen und das Fleisch für die gefüllten Weizengrützenbällchen zu stampfen. Und ich habe darauf geachtet, das Radio so leise zu stellen, dass ich die Lieder aus der Küche gerade noch hören konnte. Wenn wir ein Klopfen an der Tür vernahmen, haben wir das Radio vor dem Öffnen ganz schnell ausgeschaltet. Jahrelang haben wir es so gehalten, selbst als die Ereignisse vorüber waren und die Menschen wieder normal miteinander umgingen. Wir haben das Radio zum Schweigen gebracht – das war meine Aufgabe –, und meine Mutter hat den Hund im Schlafzimmer in den Schrank gesperrt, damit sein Bellen den Revolutionären nicht an die Ohren dringt. Ja, wir haben das Radio ausgemacht und unter seinem Stoffüberzug verschwinden lassen, als hätten wir es seit ewigen Zeiten nicht angerührt. Und wir haben den weißen europäischen Hund versteckt. Er hat mir die ganze Zeit Gesellschaft geleistet, wenn ich hier gesessen habe. Wenn sich irgendetwas in der Nähe gerührt hat, hat er die Augen geschlossen und ein schwaches Bellen von sich gegeben. Ich habe ihn Freddy genannt, aber mich nicht getraut, mit ihm auf die Straße zu gehen. Ich hatte Angst, die Kinder würden mich verfolgen und hinter mir her pfeifen. Das sind wirklich alles kleine Bastarde.
Wir haben uns nicht getraut, fröhliche Lieder zu spielen, besonders wir, die Familie Âssi. Wir hatten Angst, manche Leute könnten denken, wir würden uns über die Geschehnisse freuen, und dass einige dies vielleicht als Vorwand nähmen, über uns herzufallen. Sie wollten, dass wir für sie Partei ergreifen, aber wir wollten uns keinen Ärger einhandeln, nicht von ihnen und nicht von irgendjemand anderem. Wir hatten auch Angst, dass die Radiogeräusche bis zu Ihrer Mutter dringen, die den uns gegenüberliegenden Balkon praktisch nie verließ. Ich habe hier gesessen und Esmahân und Laila Murâd gelauscht und vom Theater geträumt. Ich war achtzehn Jahre alt und hatte angefangen, auf mein Aussehen achtzugeben und meine Blicke zu studieren. Ich weiß noch, wie ich hier gesessen und ganz lange in den Spiegel geschaut habe. Aber trotz all meiner Anstrengungen haben mir immer alle vorgeworfen, ich würde auf Zehenspitzen gehen und dabei meine rechte Schulter nach unten ziehen. Ja, sicher, ich fühle mich klein, aber so kann man ja nicht größer werden! Damals habe ich einmal auf der Bühne gestanden. In der Schule wollte ich unbedingt, dass man mir eine Rolle gibt, und sei sie noch so klein. Der Lehrer hat mir daraufhin ein schwarzes Kleid angezogen, mir eine lange Eisenforke in die Hand gedrückt und mit mir geübt, die Bühne von rechts nach links zu durchschreiten und den Satz zu sagen:
– Ich bin Luzifer, der Herr des Feuers und der Gott der Hölle!
In der Vorstellung habe ich den Satz dann zweimal gesagt und bin einfach auf der Bühne stehen geblieben, ich habe mich geweigert, auf der anderen Seite wieder abzugehen. Ich habe es ausgekostet, vor dem Publikum zu stehen, bis der Lehrer angefangen hat, mir von hinter dem Vorhang zuzurufen, ich solle mich davonmachen. Meine Mutter hat in der ersten Reihe gesessen, die für die Familien der Schauspieler reserviert war. Sie hat ihn gehört und protestiert, sie ist aufgestanden und hat laut an ihn appelliert, mich noch länger auf der Bühne stehen zu lassen. Meinem Vater hingegen hat die Rolle des Teufels für seinen Sohn gar nicht gefallen, genauso wenig wie die des Judas, die sie mir am Gründonnerstag zugeteilt haben. Wütend hat er zu mir gesagt, ich sei doch ein hübscher Junge, warum also gäben sie mir nicht die Rolle von Jesus oder vom heiligen Petrus.
Auf jeden Fall haben meine Eltern Angst um mich gehabt, als sie sahen, wie sich meine »Blockade« immer weiter verstärkte, wie sie sich
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