Morgen des Zorns
hinaus.
Es heißt, der Ladenbesitzer habe »alles gesehen«. Aber der Besitzer welchen Ladens? In einem der Läden hatten zu Beginn des Gefechts zahlreiche Männer Zuflucht gesucht, wie es in der Anklageschrift daselbst heißt.
Elia ist es gelungen, sich eine Kopie der Anklage zu besorgen. Er besteigt ein Taxi, einen alten Mercedes, dessen Fahrer ihn im Rückspiegel immer wieder mustert. Unzählige Kurven, eine schmale Straße. Ein großer Steinbruch, der sich in den Berg frisst. Beide Männer drücken ihr Bedauern angesichts des Anblicks aus.
Links und rechts der Straße tauchen die ersten Domizile auf. Vereinzelte Villen, Kopien südamerikanischer Häuser mit hochgelegenen Eingängen, eine Fassade, die an römische Tempel erinnert, schweizerische Chalets in unterschiedlichster Ausführung, hier und dort kleine bescheidene Häuschen. Und plötzlich ein Gebäude aus weißem Stein, das japanisch anmutet.
– Wer hat dieses Haus gebaut? Wie wohnen die darin?, ruft Elia aus, als er es entdeckt.
– Gelder, die mit Diamanten und anderen Geschäften verdient wurden … Die sind früh nach Afrika gegangen, erklärt der Fahrer. In seinen Worten schwingt ein wenig Neid mit.
Er meint, dass sie nach Afrika emigriert sind und Unmengen von Geld gehortet haben, als es noch einfach war, die Schwarzen dort an der Nase herumzuführen.
Der Wagen biegt ins alte Viertel ein.
Dicht an dicht stehende Häuser.
Da ist die Kirche und da der Platz und die Geschäfte, sagt der Fahrer.
Der Fahrer hat Elia nicht gefragt, wer er ist. Er wirft nur seinen Zigarettenstummel durch das Autofenster und fragt:
– Wo soll ich Sie rauslassen?
– Vor der Kirche.
Der Chauffeur gibt ein undeutliches Geräusch von sich, dreht eine Kurve und parkt den Wagen unter dem Chinabaum, der einen breiten Schatten wirft; er werde hier auf ihn warten, sagt er.
– Nehmen Sie sich Zeit … Dort ist die Kirche.
Dann geht er zur Tür eines Ladens und bittet um kaltes Wasser. Elia sieht ihn von weitem eine Weile lang mit einem Mann sprechen, der dort sitzt. Er isst ein Gericht aus Okraschoten und Reis. Auch der Fahrer seinerseits verfolgt seinen Fahrgast eine Zeitlang mit den Augen, bevor er wieder zu seinem Auto zurückkehrt. Möglicherweise wird er gleich seinen Sitz ein wenig nach hinten schieben und sich in einem willkommenen Schläfchen darauf ausstrecken.
Unter dem Chinabaum herrscht eine angenehme Temperatur.
Elia beginnt sofort zu fotografieren. Es ist, als ergaunere er sich die Fotos, als sei die Zeit begrenzt, bevor es jemandem auffällt, der einschreitet und ihm das verbietet.
Ein Labyrinth aus Gassen und Häusern. Elia mustert den Platz. Zum ersten Mal kommt er in diesen Ort. In der Vergangenheit hat niemand ihn hierher begleiten wollen. Er schützt seine Augen mit der rechten Hand vor den Sonnenstrahlen.
Der Besitzer des Ladens ist Journalisten von damals gewöhnt. Zuerst kamen sie in Scharen, manche waren schon am nächsten Tag aufgetaucht, am Montag. Da war die Anzahl der Toten und Verletzten noch gar nicht genau ermittelt, weil man sie auf die verschiedenen Krankenhäuser in der Stadt aufgeteilt hatte. Die Anklage listete 24 Namen von Toten auf, darunter vier Frauen, und 28 Verletzte, darunter sieben Frauen, sowie zusätzlich eine Nonne und eine große Anzahl von »flüchtigen Verletzten, die von den Ermittlungen nicht identifiziert wurden …«. Während des ganzen Sommers 1957 und bis zum Beginn der »Revolution« trudelten die Journalisten hier ein. Journalisten aus Beirut und ausländische Korrespondenten, europäische, sie fotografierten die Menschen und den Platz, sprachen die Passanten an, stellten alle möglichen Fragen, gingen um die Kirche herum, notierten einige Anmerkungen in ihre Notizbücher. Momentaufnahmen, auf die sie sich beim Verfassen ihrer Artikel stützen würden.
Die berühmteste war Aline Lahûd, die trotz ihrer langen journalistischen Erfahrung niemals von der Neigung geheilt wurde, sich in Klischees zu flüchten. Das Niveau war das von Schulaufsätzen. Auch schüttete sie ohne Unterlass die Gräben ihres mündlichen Arabisch mit einigen französischen Einsprengseln wie déjà oder somme toute zu, während sie ihre Gesprächspartner, Frauen wie Männer, an der Hand oder an der Kleidung festhielt, sei es aus Sympathie oder um den Kontakt zu erleichtern. Drei Tage nach dem Vorfall besuchte sie die Region in Begleitung des Fotografen Fuâd Haddâd. Ganz im Gegensatz zu ihrer Gewohnheit, ihre körperlichen Reize,
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