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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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angeschaut, meine Mutter und ich.
    Eigentlich waren wir an den Lärm von Haifa gewöhnt. Wenn wir kein Zanken und Streiten hörten, wussten wir, dass sie auf den Markt nach Tripolis gefahren war. Ein morgendlicher Waffenstillstand.
    Dieses Mal hat ihre Stimme so dunkel geklungen, als käme sie aus der verborgenen Tiefe ihrer Seele. Ich habe aus Versehen mit dem Bügeleisen einen Fleck in das Hemd meines Bruders gebrannt. Habe dann das Eisen beiseitegestellt und das Kreuzzeichen gemacht. Wenn ich sonntags von der Messe komme, ziehe ich mein Hauskleid wieder an. Ich besitze Kleider und alles, was dazugehört, aber für wen sollte ich sie anziehen?
    Meine Mutter ist ans Fenster gegangen. Nach Haifas Schrei haben wir keinen Laut mehr vernommen. Nichts. Eine bedrückende Stille hat das Viertel eingehüllt. Als würde die Nachricht, die der Anlass für Haifas Schrei gewesen war, sich raunend weiterverbreiten, wie üblich bei schlechten Nachrichten hier bei uns. Sie werden von Viertel zu Viertel, von Tür zu Tür und besonders von Frau zu Frau getragen, bis eine von ihnen anfängt zu schreien. Zu schreien, als hätte man ihr einen Stromschlag versetzt.
    Dieses Mal war es Haifa Abu Draa. Ich habe keine Ahnung, wer sich getraut hatte, es ihr zu erzählen. Ihr Bruder war der einzige Junge unter fünf Mädchen gewesen, wie hatte man ihr das antun können? Die Frau hat anscheinend bei ihr in der Tür gestanden und gesagt, ihr Bruder sei verletzt worden. Sie hat einen einzigen Schrei ausgestoßen und das Bewusstsein verloren. Sie hat gewusst, dass er tot war; sie hat gewusst, dass man bei schlechten Nachrichten nicht mit der Tür ins Haus fällt, damit der andere sie leichter verkraften kann. Wenn es heißt, der Soundso wurde ins Krankenhaus gebracht, dann bedeutet das, dass er mausetot ist. Die eigentliche Nachricht zeichnet sich im Gesicht des Überbringers ab, und Haifa kann Gesichter lesen.
    Zuerst hat die Nachricht sie getroffen, dann hat sie ihren Weg in alle Richtungen genommen. Nur wenige Minuten später hat sie uns ereilt, durch meine kleine Schwester, die auf dem Weg zum Laden gewesen war, um Ziegenjoghurt zu kaufen. Die Saison dafür hatte gerade angefangen. Sie ist sofort wieder zurück. Sie hat uns erzählt, dass sie nicht weiß, warum sie auf dem Absatz kehrtgemacht hat, irgendetwas in der Luft, in den Blicken der Leute hat sie dazu gedrängt, hat zu ihr gesagt, Mädchen, geh zurück nach Hause. Bleich vor Schreck ist sie hereingekommen und hat uns angeguckt, als wüssten wir, was passiert ist. Sie ist gestolpert und wäre fast der Länge nach hingefallen. Sie hat sich immer wieder umgedreht, als würde jemand sie verfolgen. Wir haben nichts von ihr erfahren, sie war unfähig zu sprechen, ihre Zunge war wie verknotet. Sie hat sich auf die Bank geworfen und nichts mehr gehört und gesehen.
    Der Stumme hat mehr gewusst als sie, er hat alles gewusst. Er ist hinter ihr ins Haus gekommen. Er ist unser Nachbar und ein entfernter Verwandter von meiner Mutter. Er war wie üblich barfuß. Immer wenn er die Schwelle unserer Tür überschritt, wehte der Geruch von Zuckerrohr und Fluss ins Haus. Er hat Aale gefangen und Fischernetze genäht. Man konnte ihm ansehen, dass er etwas sagen wollte. Er ist auf meine Mutter zugegangen.
    Jeden Tag, wenn sie mit der Hausarbeit fertig war, hat sie sich zu ihm gesetzt. Dann hat er aufgehört, Netze zu nähen, und sie haben Kaffee getrunken. Er war taubstumm, nur sie allein konnte ihn verstehen und sich ihm verständlich machen. Wie sie da saßen und er ihr seine Sprache beibrachte, waren sie schön anzusehen. Eine vollständige Sprache, die er sich ausgedacht hatte; er kann jemanden als geizig beschreiben oder ausdrücken, dass jemand eine Brille trägt oder dass eine Frau immerzu lügt. Immer wenn er Fische gefangen hatte, brachte er uns welche mit.
    Als er reinkam, standen ihm Tränen in den Augen. Er war ganz aufgeregt und machte ganz schnelle Bewegungen mit der Hand, er klapperte mit den Augenlidern, malte Zeichen in die Luft, mal als drehe er das Steuer eines Autos, ein anderes Mal als würde er mit dem Mund das Geräusch von Schüssen nachahmen, die in alle Richtungen abgefeuert wurden. Er erzählte meiner Mutter ausführlich von einem Vorfall. Meine kleine Schwester, die von der Straße geflohen war und sich auf die Bank geworfen hatte, war am Ende ihrer Kräfte. Der Stumme legte den Kopf zur Seite, streckte seine Zunge heraus, verdrehte die Augen, vielleicht ein Hinweis auf Haifa

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