Morgen des Zorns
gewagt, es noch mal zu erzählen. Sie hat ihnen ins Gesicht gebrüllt, dass sie ihr eine Antwort geben sollen, aber sie sind ihr ausgewichen.
Ungefähr um halb sechs haben wir ein lautes Rauschen gehört, das immer näher kam.
Da wurden die Toten gebracht.
Ein kleiner Transporter hat die Menge geteilt. Darauf haben sie gelegen, übereinander.
Die Leute haben sich um den Lieferwagen geschart, und ein Mann, der auf dem Autodach stand, hat gebrüllt, sie sollten Platz machen, da wären welche dabei, die noch nicht tot seien, und sie sollten den Transporter so schnell wie möglich in die Stadt ins Krankenhaus fahren lassen. Vielleicht könnten sie ja noch jemanden retten.
Wir sind so nah herangegangen, wie wir konnten. Kâmleh hat die Leute mit der Hand weggestoßen, und ich bin hinter ihr her, so haben wir uns unseren Weg zum Transporter gebahnt. Viele haben es geschafft, die Eisenstäbe anzufassen, die die Ladefläche von beiden Seiten schützten, und so sind sie neben dem Wagen hergelaufen, der Transporter hat sie mitgezogen. Sie hatten die Toten so daraufgelegt, dass die Köpfe im Lieferwagen lagen, und darüber hatten sie ein weißes Laken geworfen. Nur die Füße ragten heraus.
Der Transporter fuhr vorbei, die Leute haben ihn nicht aufhalten können. Um sich den Weg durch die Menge zu bahnen, hat der Fahrer die Hand gar nicht mehr von der Hupe genommen, und der Mann auf dem Dach hat immerzu gerufen, sie sollten den Weg freigeben. Obwohl sie sich neben den Leichen befanden, hat sich niemand getraut, das weiße Laken von den Köpfen zu ziehen.
Auf einmal ist Kâmleh nicht mehr hinter dem Transporter hergelaufen. Sie hat sich zu mir umgedreht und gesagt, ich soll sie nach Hause begleiten.
– Komm mit und frag mich nicht.
Ich bin mit ihr gegangen. Ich wäre zwar gerne wenigstens ganz kurz zu Hause vorbei, um nach meiner Familie zu sehen, aber sie hat mich nicht gehen lassen. Ich habe mir gedacht, Kâmleh ist verrückt geworden. Sie ist furchtbar schnell vor mir hergelaufen und hat immer wieder gesagt:
– Muntaha, komm mit!
Bestimmt zwanzig Mal hat sie das gesagt, während ich hinter ihr herlief.
Als wir ankamen, hat sie den Hausschlüssel nicht gefunden. Sie hatte ihn im Gedränge verloren. Wir haben dann den Nachbarsjungen hochgehoben, so dass er durchs Fenster einsteigen konnte. Ein kleiner, schmächtiger Bub, der zuerst den Kopf und dann den ganzen Körper durchs Fenster zwängen konnte. Er musste nur durchs Wohnzimmer durch, bevor er zur Tür kam, um uns von innen zu öffnen, aber in diesen wenigen Sekunden hatte Kâmleh schon hundertmal gegen die Tür geschlagen, bei Gott, wirklich und wahrhaftig, hundertmal, sie hat so lange dagegengehauen, bis ihr das Blut von den Fingern floss.
– Wohin, Kâmleh?
– Komm mit, Muntaha!
Das war alles, was sie herausgebracht hat.
Sie ist ins Schlafzimmer, hat eine der Schubladen vom Kleiderschrank aufgerissen, und als ihr die Schublade mit der Ecke auf den Fuß gefallen ist, hat sie geschrien. Dann hat sie sie auf den Boden gelegt und sich daneben gesetzt. Die Schublade war voller Männerstrümpfe. Es war die Schublade mit den Socken von ihrem Mann. Ich hatte nicht gewusst, dass ein einzelner Mann so viele Strümpfe haben kann. Ich habe das mit meinem Vater und meinem Bruder verglichen, die hatten nur drei oder vier Strümpfe, nicht mehr, die haben wir gewaschen und mit Hilfe der Glühbirne gestopft, wenn sie ein Loch hatten. Wir haben den Strumpf über die Birne gestülpt, um ihn leichter stopfen zu können.
Sie hat auf dem Boden gesessen und angefangen, in der Schublade zu wühlen. Sie hat die Strümpfe nach rechts und links geworfen, als würde sie ein Farbenspiel spielen:
– Dunkelblau, dunkelblau, dunkelblau …
Wenn sie sich der Farbe unsicher war, hat sie ihn ins Licht gehalten, das durchs Fenster kam, und die Leute gefragt:
– Ist das dunkelblau oder schwarz?
Einige Nachbarn waren uns gefolgt. Was hätten wir ihr antworten sollen? Wir haben gedacht, sie ist verrückt geworden. Das ganze Zimmer war schon mit Strümpfen überfüllt. Ich habe sie an der Schulter gepackt und geschüttelt, damit sie redet. Da hat sie gesagt:
– Er ist tot, Muntaha, er ist von uns gegangen!
Ich habe versucht, sie zu beruhigen.
– Wohin ist er gegangen, Kâmleh?
Da hat sie aufgehört.
– In Ordnung. Woher weißt du, dass er tot ist?, habe ich sie gefragt.
– Ich habe seine Füße auf dem Lieferwagen gesehen!
Ich habe sie geschüttelt und geschlagen, ich habe
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