Morgen des Zorns
glaubte ihr.
Sie hat die Frage wiederholt. Sie wollte unbedingt, dass ich es zugab.
– Ja, bei Gott, ich glaube dir, Kâmleh.
Das Beste, was ich tun konnte, war, zu schweigen und sie festzuhalten und so wenig wie möglich reden zu lassen.
Ihn aus dem Krankenhaus zu schaffen, war keine leichte Sache. Kâmleh hat darauf bestanden, dass wir ihn mitnehmen. Wir konnten aber keinen Krankenwagen finden, um ihn zu transportieren.
– Ich will wissen, wer noch mit ihm getötet wurde.
– Wir wissen es noch nicht.
– Sagt es mir!
– Es sind fünfzig Tote.
Ich habe absichtlich übertrieben, weil ich plötzlich das Gefühl hatte, es würde sie ein wenig trösten, wenn es viele waren.
– Ich will ihn mitnehmen, jetzt!
Wir haben sie angeschrien, wir drei Frauen haben gebrüllt, während Hamîd al-Samaani versucht hat, mit den Krankenpflegern zu verhandeln. Wir sind aber nicht weit gekommen, bis plötzlich ein Arzt in der Tür stand. Der Besitzer vom Krankenhaus, glaube ich. Der hatte schon so viele Tote in seinem Leben gesehen, dass er mit versteinerter Miene und in trockenem Ton zu uns gesagt hat:
– Sie wollen ihn haben? Dann nehmen Sie ihn mit.
Abgesehen von seiner Gleichgültigkeit und seiner Abgestumpftheit gegenüber dem Tod, hatte ich das Gefühl, dass in seinem Tonfall Verachtung uns gegenüber mitschwang.
Plötzlich ist ihm etwas eingefallen:
– Ich brauche einen Mann, der mir die Empfangsbestätigung unterschreibt. Ich kann es nicht verantworten, auch nur eine einzige Leiche aus dem Krankenhaus zu entlassen, bevor der Untersuchungsrichter nicht die Erlaubnis gibt, sonst werde ich bestraft und das Krankenhaus auch.
Hamîd al-Samaani hat sich angeboten, die Bestätigung zu unterschreiben.
Wir haben ihn im Auto mitgenommen. Wir haben seinen Kopf auf Kâmlehs Brust gelegt und seine Beine auf meinen Schoß, ihre Mutter hat vorne neben Hamîd gesessen. Das Auto ist ganz langsam gefahren, und Kâmleh hat für ihn gesungen. Der Rücksitz wurde ganz schmutzig vom Blut, aber Hamîd al-Samaani hat sich nicht darum geschert. Ihm hatte der Kummer die Kehle zugeschnürt, und er konnte nicht weinen. Auch mein Kleid wurde schmutzig, aber es war das Hauskleid, Kâmleh hatte mir ja keine Zeit gelassen, mich umzuziehen.
Die ganze Strecke über hat Kâmleh für ihn gesungen. Sie war ganz ruhig, hat seinen Kopf in den Händen gehalten und ihn zu sich an die Brust gezogen. Ich weiß nicht, wie sie auf dieses alte Lied aus Bagdad kam:
Ahmad, Muhammad, Ali Pascha wollten mich töten.
An einem Freitag war’s.
An einem Freitag, wenn alle sich besuchen.
Mich hob man hoch aufs Kamel,
ein Henker war’s, der es geführt …
Bis heute singt Kâmleh für sich allein. Mein Fenster ist ganz nah bei ihrem, jede Nacht singt sie Lieder aus Bagdad. Ich schlafe mit ihrem Gesang ein, der – anders als sie – zärtlich ist.
Aber in jener Nacht haben wir nicht geschlafen. Niemand hat geschlafen. Wir haben noch nicht einmal unseren Pyjama angezogen. Ich habe sie nicht alleingelassen. Wir haben versucht, sie dazu zu bewegen, etwas zu essen, aber vergeblich. Am nächsten Morgen haben sie alle Toten zum Kirchplatz gebracht, ich weiß nicht, wer auf die Idee gekommen ist. Ein Gemeinschaftsbegräbnis, der Patriarch hat zwei Erzbischöfe geschickt. In der Gemeinschaft ist der Tod leichter zu ertragen.
– Lass mich nicht allein, Muntaha …, flehte Kâmleh mich wieder an.
Wir sind zum Kirchplatz gegangen. Sie hatten vereinbart, die Toten um den Platz herum aufzubahren. Den ganzen Montag über, bis zur Beerdigung. Sie haben Betten aus den nahe gelegenen Häusern rausgeschleppt. Ich konnte noch nicht einmal zu Hause vorbeigehen, um mich umzuziehen.
– Mein Kleid ist voller Blut. Ich gehe mich umziehen, Kâmleh, dann komme ich zurück.
– Lass mich nicht allein, Muntaha!
Ich hatte das Gefühl, dass auch sie sterben würde, wenn ich sie alleinlassen würde. Sie war wie betäubt, sie hat sich an mir festgekrallt. Damit sie überhaupt gehen konnte, mussten wir sie stützen. Auf jeder Seite eine Frau, und tausendmal die gleiche Frage. Ich habe sie für eine viertel Stunde ihrer Mutter übergeben, um in aller Eile mein Kleid zu wechseln. Als ich zurückkam, habe ich gehört, wie sie ihren Mann gefragt hat:
– Warum bist du nach Burdsch al-Hawa hochgegangen?
Mit monotoner, entkräfteter Stimme hat sie die Frage wieder und wieder gestellt, wie eine Schallplatte. Und von Zeit zu Zeit hat sie ihre Kräfte zusammengenommen und laut
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