Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
Vom Netzwerk:
gerufen:
    – Warum bist du nach Burdsch al-Hawa hoch?
    Dann hat sie die Frage in Einzelteile zerhackt:
    – Warum – bist – du – nach Burdsch – al-Hawa – hochgegangen?
    Sie schien unbedingt jetzt eine Antwort hören zu wollen. Eine viertel Stunde oder länger hat sie für diese Frage gebraucht.
    Dann hat sie angefangen, ihn liebevoll zu tadeln:
    – Du bist doch noch nicht mal zu den Beerdigungen deiner Verwandten in der Kirche hier gegangen. Was ist denn in dich gefahren, dass du nach Burdsch al-Hawa hoch bist?
    Sie schwieg. Ich habe sie gezwungen, wenigstens ein bisschen Wasser zu trinken. Wie ein kleines Kind, das sich weigert, die bittere Medizin zu schlucken, hat sie den Mund zugepresst. Dann hat sie ein bisschen getrunken und sich das Wasser auf Hals und Kleider geschüttet. Zweimal hat sie getrunken, dann hat sie ihm eine neue Frage gestellt, eine schwere Frage:
    – Warum haben sie dich getötet?
    Wieder und wieder hat sie die Frage gestellt, sie hat auf einer Antwort bestanden. So haben wir den Tag verbracht.
    Kâmleh war nicht die einzige, die über dem Kopf ihres Mannes vor sich hin gemurmelt hat. Wenn sie für eine Weile schwieg, um ein bisschen Kraft zu schöpfen, habe ich gehört, dass auch über den Köpfen der anderen Toten geredet wurde.
    Haifa Abu Draa hatte ihre Stimme verloren. Sie hatte sich mit ihren Schwestern und ihren Töchtern um ihren Bruder geschart, den einzigen Jungen. Statt zu reden, gestikulierte sie mit den Händen.
    Die Klageweiber zogen von einem Bett zum anderen. Wir Frauen haben Angst, mit einem Toten allein zu sein, deshalb fangen wir an zu reden und wissen nicht, wie wir wieder aufhören sollen. Die Männer bringen sich gegenseitig um und wir weinen.
    Es wurde immer später.
    Die Sonne brannte. Ich habe gebetet, dass Gott die Priester beflügle und sie sich mit der Beerdigung beeilen. Auf dem Glockenturm hat ein junger Mann gestanden, der mit lauter Stimme die Toten auf dem Platz gezählt hat. Er hat gezählt und gezählt und mit der Hand auf jeden einzelnen von ihnen gezeigt, und immer wenn er bei zehn angekommen ist, hat er wie ein Wahnsinniger geschrien. Einer hat ihn laut aufgefordert, Erbarmen mit den Menschen zu haben und herunterzukommen, aber er hat sich geweigert und angefangen, aus Trauer die Glocke zu schlagen, von oben, er hat den Eisenklöppel genommen und damit gegen die Glocke geschlagen. Drei Schläge, dann hat er aufgehört.
    Ich weiß nicht mehr, was mich abgelenkt hat, aber plötzlich ist einer, von dem ich den Namen nicht nennen will, zu ihr gekommen und hat ihr etwas über Fuâd al-Râmi und seinen Bruder Butros zugeflüstert. Da hat sie wie von der Tarantel gestochen aufgeschrien. Schon vor der Beerdigung hatte man damit angefangen, die Namen jener in die Runde zu werfen, die zur Rechenschaft gezogen würden.
    Etwa um drei Uhr, als der Termin der Beerdigung näher rückte und die Sonne brannte, hat sich ihre Mutter über sie gebeugt und ihr zugeraunt:
    – Geh unter dem Sarg durch.
    Eine starke Frau war ihre Mutter gewesen, eine Frau, die sich mit den Bräuchen auskannte.
    Kâmleh schien sie gar nicht gehört zu haben, deswegen habe ich sie am Ärmel gezogen, damit sie zu sich kommt. Ich hatte das Gefühl, dass sie gar nicht versteht, was man ihr sagt. Deshalb habe ich die Worte wiederholt:
    – Nachdem sie den Weihrauch angezündet haben, heben sie den Sarg hoch. Dann geh unten drunter durch, hast du verstanden? Es ist bald so weit.
    – Und warum soll ich unter dem Sarg hergehen?
    – Mein Kind, mischte sich ihre Mutter wieder ein, eine Frau, deren Mann gestorben ist und die schwanger …
    – Und woher soll ich schwanger sein, Mama?, unterbrach sie Kâmleh so scharf, als sei sie endlich aufgewacht.
    Wir schwiegen. Wir wollten sie nicht noch mehr verletzen. Wir haben auch einen Skandal befürchtet, wenn sie jetzt laut würde. Aber ihre Mutter hat nicht nachgegeben, sie ist so dickköpfig wie die Tochter, sie ist aus der Frandschi-Familie. Sie hat darauf gewartet, dass man den Weihrauch anzündet, dann ist sie wieder zu ihr gekommen:
    – Tu, was ich dir gesagt habe, hörst du?
    Sie hat geglaubt, sie muss die Entscheidung für ihre Tochter treffen.
    – Ich bin nicht schwanger, ich bin nicht schwanger, ich bin nicht schwanger …
    Vor Wut schrie sie, sie schlug sich mit der Hand auf den Bauch. Genauso wie damals, als sie die Hoffnung aufgegeben hatte, Kinder zu bekommen. Die Frauen, die in unserer Nähe um ihre Toten herumstanden, horchten auf.

Weitere Kostenlose Bücher