Morgen des Zorns
stets von Studentinnen der Humanwissenschaften umgeben, die sich von der Klugheit eines Mannes stärker angezogen fühlen als von seiner Schulterbreite. Meisterhaft beherrschte Elia die Kunst der verbalen Verführung und suggerierte, wenn er über ein Thema schwadronierte, dass er eigentlich mehr wusste, als er preisgab. Er nutzte diesen Eindruck, um sein Gegenüber in Verlegenheit zu bringen, indem er etwa sagte: »Du weißt doch, dass Picasso geizig war …«, oder: »Die Neotrotzkisten werden die Vereinigten Staaten in Kürze regieren, wie du sicher weißt.« Auf diese Weise hinterließ er im Blick seines Gesprächspartners den Makel der Unwissenheit und die Bestätigung seiner eigenen Überlegenheit.
Schon früh hatte er begonnen, literarische und philosophische Zitate zu sammeln. Kurze Sätze, die er hier und da aus dem Zusammenhang gerissen hatte, vom heiligen Augustinus bis zu Jacques Derrida. Er hatte sie in ein Heft notiert und versucht, sie auswendig zu lernen, um sie je nach Bedarf als unschlagbares Argument in die Unterhaltung einzuflechten. Für jede Situation hatte er einen Spruch auf Lager – eine todsichere Methode der Verführung. In jener Zeit notierte er auch jede Nacht, bevor er sich zu Bett begab, mindestens einen Satz, den er seinen Gefühlen zu entlocken vermeinte, auch wenn es ihm nicht immer leichtfiel, zu unterscheiden, was tatsächlich aus seinem Inneren kam und was er von den Geistesgrößen der Welt im Gedächtnis gespeichert hatte. Sich selbst bezeichnete er mal als den letzten Romantiker, ein anderes Mal als den ersten Numeriker, erklärte seine Vorliebe für die französische Malerei des Surrealismus und warf Namen von obskuren Künstlern und Dichtern in die Runde, als seien es seine besten Freunde.
Eine andere Seite seiner menschlichen Bedürfnisse war das Kochen, das er aus Büchern gelernt hatte und ihm als eine weitere Waffe der Verführung diente. Mit einer Geduld, für die er am Ende belohnt wurde, übte er sich in der Zubereitung verschiedener Gerichte, und da er sich auch in Büchern über die diversen Nahrungsmittel schlau gemacht hatte, versetzte er seine Zuhörer durch seine Fähigkeit in Erstaunen, zwischen den Zutaten der thailändischen Küche und den »festen Bestandteilen« koreanischer Gerichte unterscheiden zu können. Darüber hinaus hatte er eine erstaunlich lange Liste mit Namen der Spezialrestaurants von ganz New York im Kopf. Bei alledem aber blieb er ein Einzelgänger, der freudig von seiner Familie fortgegangen war, um sich alleine dorthin zu begeben, wo sich ein Jahrhundert vorher seine Vorfahren, deren Namen noch immer in den Akten von Ellis Island registriert waren, niedergelassen hatten.
Er war und blieb ein einsamer Jäger. Seine Beziehungen zu Männern wie Frauen währten nicht lange, weil es ihm nicht gelang, die Freundschaften innerhalb einer Flut von sich unterscheidenden und variierenden Lebensläufen, die er über sich selbst in Umlauf brachte, zu managen. Auf alle Fragen nach seinem Privatleben gab er ausnahmslos die vielfältigsten Antworten, so dass er befürchten musste, irgendwann einen Fehler zu begehen. Aus Furcht, sie könnten seine Ammenmärchen entlarven, brach er die Beziehung mit jenen Freunden ab, die er mit Phantasiegeschichten über sein Leben übersättigt hatte. Manchmal konnte er sich nicht mehr daran erinnern, welchen Beruf er einem Freund gegenüber, der ihn nach langer Abwesenheit treffen wollte, für seinen Vater aus den Fingern gesogen hatte, »der immer noch am Leben ist und sich seiner Manneskraft erfreut«. Oder welches Schicksal er seiner Mutter zugedacht hatte, von der er bisweilen behauptete, dass sie schon gestorben und wunderschön gewesen sei. Um jeder Verwicklung aus dem Weg zu gehen, zog er es deshalb lieber vor, die Beziehung abzubrechen.
Für seine Kindheit hatte er mehrere Varianten parat, die er seinem unerschöpflichen Vorrat an Geschichten hinzufügte, um den Mädchen den Kopf zu verdrehen. Allesamt bedrückende Geschichten – und alle frei erfunden. Bei einer von ihnen handelte es sich um eine geringfügige Modifikation eines Filmes, den er gerade erst gesehen hatte: Eigentlich italienischen Ursprungs, beherrsche er die Sprache seines Landes nicht; er sei zwar in einem volkstümlichen Viertel von Neapel geboren, von dem aus eine Treppe zum Meer führe, doch aus Angst, wenn er groß sei, von der Mafia rekrutiert zu werden, sei seine Mutter mit ihm in die USA geflohen. Seine Onkel seien hohe Tiere bei der
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