Morgen des Zorns
Messer besaß, mit dem er jemanden hätte verletzen können. Die meisten Männer hatten Sorge um ihren Schnurrbart und musterten sich erst einmal im Spiegel. Ein finsterer Ausdruck war obligatorisch, legte sich spontan auf die Gesichtszüge des Mannes, der dastand und die Linse herausforderte, als blicke er seinem Gegner geradewegs in die Augen, und immer, wenn Nischân ihn aufforderte stillzuhalten, damit das Foto nicht verwackelte, wurde der Blick noch finsterer.
Dann baten sie ihn auch nach draußen, damit er sie fotografierte, wie sie sich mit der größtmöglichen Anzahl an Freunden um ein neues Auto scharten; oder er sollte ein Brautpaar zu Hause inmitten der Blumensträuße und der Jubeltriller aufnehmen. Später, als sich die Männer veränderten und ihre Frauen und Kinder mitbrachten, da tauchten dann auch Frauen bei ihm auf. Ganze Familien erschienen und stellten sich im Sonntagsstaat zusammen auf. Womöglich wollten sie auch nach jedem neuen Kleiderkauf vor dem Fotografen posieren. Er forderte sie dann auf, ein leichtes Lächeln aufzulegen, dem zuerst die Kinder Folge leisteten und danach die Frauen. Männern indes fiel es schwer, die Zähne zu entblößen, sie behielten stets ihre verschlossene Miene bei. Er bat sie dennoch um ein Lächeln und versuchte, alle Blicke auf sich zu ziehen. Ein versonnener Blick auf der Fotografie, der sichtlich von irgendetwas hinter oder neben dem Fotografen abgelenkt worden war, gehörte zu den Fehlern, die man, um erfolgreich zu sein, unbedingt vermeiden musste. Dann ließen sie die Kinder fotografieren. In Engelskleidern bei der Erstkommunion oder am Palmsonntag, weinend und mit einer Kerze in den Händen, die größer war als sie selbst. Oder sie brachten sie zu ihm ins Studio, wo sie ein Holzpferd besteigen und einen breiten mexikanischen Strohhut aufsetzen sollten. Nazaret war mit ihm in einen Wettstreit getreten und hatte sogar Aufnahmen davon gemacht, wie sie ein Flugzeug aus buntem Holz steuern. Die Frauen hatten sich allerdings erst allein zu ihm getraut, als sie keine andere Wahl mehr hatten, das heißt, als Halbporträts für die Personalausweise und die Reisepässe obligatorisch wurden.
Nischân verließ diesen gewachsenen Kundenstamm und ging in die Stadt. Dort verbrachte er die schönsten Jahre seines Lebens. Das Leben dort war einfach, die Menschen besorgten ihren Tag mit einer Kombination aus Unbeschwertheit, Zufriedenheit und Schläue. Aber nun ist er am Ende des Weges angekommen. Die Niederlage zeichnet sich deutlich auf der Schaufensterscheibe seines Ladens ab. Staub und zwei verblasste Fotos, ein Bräutigam und eine Braut mit weißem Brauttuch, und ein Kind, das auf irgendwelchen Schultern sitzt, einen Olivenzweig in der Hand. Das Studio dient ihm nur noch als morgendliche Bleibe. Er erträgt die häusliche Einsamkeit nicht mehr. Von den Metalllettern über seiner Tür – »Foto Nischân« – sind nur noch ein schiefes sch und ein a übrig geblieben. Dieses verfluchte Zittern hat sich gänzlich seines Körpers bemächtigt, wie könnten ihm da noch die Hände gehorchen und den schweren Fotoapparat halten. Dies ist seine wahre Niederlage, nicht die Ausbreitung der Labors für Schnellentwicklung, wie er allgemein behauptet.
Zweimal am Tag schaut der Kaffeeverkäufer bei ihm vorbei, einmal, um ihm eine Tasse bitteren heißen Kaffees aus der Kanne einzugießen, die er an seiner rechten Seite trägt – das geschieht gegen neun Uhr, wenn Nischân beim Laden eintrifft – und noch einmal nach seinem langen Rundgang über den Markt, um die leere Tasse und die Bezahlung entgegenzunehmen. Außerdem empfängt er einen alten Freund, der durch die Kaffeehäuser am Tell-Platz schlurft. Und ein verirrter Behördengänger, der hoch aus den Bergen gekommen ist, tritt bei ihm ein, sein harter Dialekt eilt ihm voraus und entlarvt ihn, und wenn er die Tür öffnet, zieht der Grillgeruch des benachbarten Restaurants mit herein. Er möchte Wertmarken kaufen oder erkundigt sich, wie er an ein Führungszeugnis kommt. Gegen halb zwei schließt Nischân seinen Laden, um zum Mittagessen zu gehen; damit ist die Sache erst einmal erledigt, er wird nicht vor dem nächsten Morgen wiederkommen.
Das Szenario für die Zukunft ist bekannt, er selbst hat seinen Teil dazu beigetragen: Sobald er die Augen für immer schließen wird – der Zeitpunkt naht, wegen der Krankheit, die ihn aufzehrt, Zucker seit mehr als dreißig Jahren –, wird seine Frau den Laden verkaufen; sie wird ihn
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