Morgen des Zorns
verbieten können, darüberzulaufen, doch das haben sie nie getan.
Für die Leute im Viertel war dieser Platz wie eine Erweiterung der Straße, ein Ort, an dem die fliegenden Händler aus dem syrischen Sidnâja ihre Waren auslegten. Dort ruhten sie sich von der Last ihrer riesigen Taschen aus, mit denen auf dem Rücken sie die Gegend durchstreiften. Umm Dschamîl bot ihnen Stühle an und den Nachbarn Kaffee. Sie feilschten um den Preis von Hemden, Handtüchern und Bettlaken, und sie schworen darauf, dass ihre Preise angemessen seien, was darauf schließen ließ, dass sie Christen waren. Zwei Brüder in weiten schwarzen Hosen, die ihre Waren derart durchwühlten, dass es sie jedes Mal von neuem Mühe kostete, die Sachen wieder in die Taschen zu stopfen, bevor sie sie sich auf den Rücken laden und in aller Eile in andere Viertel ziehen konnten. Auch der große dunkelhäutige Verkäufer bot hier seine Heiligenbilder feil, obwohl man munkelte, dass er Muslim sei. In mondhellen Nächten hockten wir auf Abu Dschamîls »Brachland« und erzählten uns unheimliche Geschichten, bis uns eine vertraute Stimme aufforderte, schlafen zu gehen. Die Stimme meiner Mutter.
– Wann ist das Haus von Fajjâd an der Reihe?, fragte ich sie flüsternd.
Sie schreckte auf. Sie hatte sichtlich einen Kloß im Hals und wischte sich eine Träne aus dem Auge.
– Wie kommst du denn auf solche Ideen?
Um ihre Erregung zu überspielen, begann sie plötzlich zu schreien.
– Wer hat dir das erzählt?
Wir wussten alles. Wir wussten, dass noch andere Familien das Viertel verlassen würden, sogar welche, und zählten sie einzeln auf. Und wir wussten auch, dass andere Familien, die zwar mit uns verwandt waren, die wir aber nicht kannten und nie zuvor gesehen hatten, ihre Sachen packen und zu uns kommen, bei uns Schutz suchen würden.
– Onkel Hamîd, gehört er nicht zu unserer Familie?
Sie missbilligte meine Frage:
– Sei still, Junge.
– Warum ist Onkel Hamîd mit seiner Familie weggegangen? Warum haben sie das Viertel verlassen und sind nach Beirut gezogen?
– …
– Warum hat mein Cousin Munîr aufgehört, mit uns zu spielen, bevor er mit seiner Familie nach Beirut gegangen ist?
Zum ersten Mal blickte sie mich an und sagte nachdrücklich:
– Ich weiß es nicht. Frag die Frau von deinem Onkel …
Ich wusste, dass die Frau meines Onkels eine Fremde war, dass sie Lippenstift auflegte und sich die Wangen puderte, aber warum ich sie fragen sollte, weshalb Munîr nicht mehr mit uns spielte, habe ich nicht verstanden.
Jedes Teil, das der Träger herausbrachte, löste neue Betroffenheit bei den Schaulustigen aus dem Viertel aus. Wir kannten das Haus von Abu Dschamîl Stück für Stück. Wir kannten das Haus von Abu Dschamîl, weil es tagsüber immer sperrangelweit geöffnet gewesen war. Für uns war es ein Teil der Straße; wenn wir vor einem streunenden Hund auf der Flucht waren, fanden wir uns unwillkürlich Schutz suchend auf den Stufen zu seinem Eingang wieder. Wenn wir Blindekuh auf dem »Brachland« spielten, versteckten wir uns dort ohne Schuldgefühle im Wohnzimmer. Hier hockten wir uns hinter den Vorhang und baten die Bewohner des Hauses sogar, unser Versteck nicht preiszugeben, und alle, Groß wie Klein, gingen darauf ein und ertrugen lächelnd unseren Aufruhr. Und wenn wir Krieg spielten, beschossen wir uns zwischen der Küche und dem kleinen rückwärtigen Garten, wo wir uns hinter dem Stamm der japanischen Wollmispel verbarrikadierten. Wir brachten unseren Lärm sowie den an unseren Schuhen klebenden Lehm der Straße mit ins Haus, und nie haben wir auch nur ein einziges Wort der Klage gehört.
Als das erste Fahrrad auf dem Rücken des Trägers erschien, begannen die Jungen zu tuscheln. Wir murmelten, äußerten unseren Missmut. Als begriffen wir plötzlich, was wir uns zu glauben geweigert hatten, dass nämlich das Fortgehen von Abu Dschamîl auch das Verschwinden seiner Fahrräder bedeutete. Abu Dschamîl war der König der Fahrräder gewesen. Eine Stunde für ein viertel Pfund. Abu Dschamîl hatte sie nach seiner Pensionierung von den Sicherheitskräften erworben. Für sie war er ein Vorbild der Disziplin gewesen, ordentlich, herausgeputzt, nicht ein einziges Mal war er zu spät zur Arbeit gekommen. Nun vertrieb er sich die Zeit damit, die Fahrräder zu vermieten, wie seine Frau sich ausdrückte. Sie schämte sich ein bisschen für diese Leidenschaft ihres Mannes, denn sie sah darin einen Abstieg nach der Anstellung
Weitere Kostenlose Bücher