Morgen des Zorns
Schlafzimmertür – dem Ort der Intimität von Mann und Frau – gab es im Haus von Abu Dschamîl kein einziges Geheimnis für uns.
Bei diesem Tempo würde das Haus in weniger als einer Stunde leergeräumt sein. Die Nachbarn hatten sich draußen versammelt, sie standen vor ihren Türschwellen oder saßen sogar auf dem Balkon, oder besser auf den beiden Balkonen, die dem Haus von Abu Dschamîl gegenüberlagen; oder sie standen ganz ungeniert mitten auf der Straße herum. Sie beobachteten den Umzug von Abu Dschamîls Familie aus unserem Viertel in das Viertel unserer Feinde. Es hatte nicht den Anschein, dass die Frauen aus ihrer Hausarbeit herausgerissen worden waren, und auch die Kinder schienen am Morgen dieses Ferientages nicht plötzlich in ihrem Spiel innezuhalten, um dem außergewöhnlichen Schauspiel zu folgen – so wie es manchmal geschah, wenn die Kleinen, den Ball in den Händen und die Beine bis zu den Knien voller Schlamm, in aller Eile angelaufen kamen. Oder wenn die Frauen, die Hände noch nass vom Waschwasser, auf die Straße stürzten, sobald unser junger Nachbar einen epileptischen Anfall erlitt. Ein solcher überkam ihn stets ganz unvermittelt, und seine Ohnmacht und der aus seinem Mund quellende weiße Schaum wurden von einem schreienden Geheul seiner Mutter begleitet, so dass die Nachbarn ein Auto heranwinkten, das ihn ins Krankenhaus brachte.
An jenem Tag stand auch dieser Junge, der mindestens einmal pro Monat einen Anfall bekam, bei uns, ohne jegliches Anzeichen seiner Krankheit zu zeigen. Wir alle waren darauf vorbereitet, die Umzugsszene zu beobachten, nachdem wir uns seit dem Vortag die Zeit dafür eingerichtet hatten. Die Hausherrin Umm Dschamîl und ihre Kinder standen genau wie wir draußen auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses und betrachteten den Vorgang. Wir standen da und schauten sie an, während sie sowohl den Träger, der die Möbel aus ihrem Haus räumte, als auch uns anschauten. Vielleicht erwartete Umm Dschamîl in der Tiefe ihrer Seele, dass die Nachbarn im letzten Moment Einspruch gegen ihren Umzug erheben würden. Weder sie noch ihre Kinder waren in einer Weise gekleidet, die darauf schließen ließ, dass sie fortgehen würden. Umm Dschamîl hatte ihr Hauskleid an, das wie immer ihre schlaksigen weißen Unterarme freigab.
Der Träger arbeitete allein. Niemand, weder die Männer noch die Frauen, legten mit Hand an. Letztere hatten die Arme in feierlichem Schweigen über der Brust verschränkt. Und immer wenn der Träger ein Teil auf seinem Rücken herausschleppte, blickte Umm Dschamîl zu den Nachbarn hinüber und blickte ihre Freundinnen an, eine nach der anderen. Sie sah ihnen direkt in die Augen. Sie wollte, dass sie Zeugen waren für das, was ihr widerfuhr. Bis schließlich einigen Tränen in die Augen traten – unter anderem meiner Mutter.
Meine Mutter war wirklich traurig. Der Fortgang von Umm Dschamîl und ihrer Familie würde eine Lücke in unserem Viertel hinterlassen, eine Lücke im Sinne einer Leere, die niemand ausfüllen würde. Meine Mutter war traurig wegen der jungen Männer, die mordeten, und traurig, weil Umm Dschamîl ihre Freundin und ihre Cousine war. Umm Dschamîl gehörte zu unserer Familie, sogar zu ihrem inneren Kreis. Sie liebte uns, am Tag des Vorfalls von Burdsch al-Hawa war sie lauthals in Tränen ausgebrochen, ihr Geschrei hatte das Viertel erfüllt, während sie sich die Haare gerauft hatte. Böse Zungen behaupteten sogar, sie habe absichtlich so übertrieben, um ihren Mann und ihre Kinder zu schützen.
Meine Mutter trauerte auch um den weiträumigen Platz vor ihrer Tür. Vielleicht würde an Stelle der Cousine jemand dort einziehen, der den Platz den Nachbarn vorenthielte. Vielleicht würde das Haus absichtlich an jemanden vermietet werden, von dem man wusste, dass er niederträchtig war und der die freie Fläche umzäunen und bepflanzen würde. Eine freie Fläche, da das Gebäude unverständlicherweise einige Meter von der Straße versetzt lag, während die Besitzer der anderen Häuser »ihre Grenzen vollständig ausnutzten«, so dass sich ihre Haustüren direkt auf die Hauptstraße hin öffneten. Die Fläche vor dem Hause Abu Dschamîls war der einzige Spielplatz im ganzen Viertel gewesen. Dieses unbebaute Stückchen Boden war ihr Eigentum, doch die Familie hatte sich niemals als Besitzerin aufgespielt, und so stand er allen als Tummelplatz zur Verfügung. Mein Vater pflegte immer zu sagen, dass sie es hätten einzäunen und jedem
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