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Morgen des Zorns

Morgen des Zorns

Titel: Morgen des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Douaihy
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ein, dass ich begonnen hatte, nach der Sympathie der Besetzer von Abu Dschamîls Haus zu heischen. Sie hielten Nachtigallen in Käfigen, und auch sie tranken in mondhellen Nächten ihren Kaffee draußen vor dem Haus.

XIV
Ein weiteres Opfer blinder Rache?!
    Von unserem Korrespondenten aus Tripolis
    Am gestrigen Freitagmorgen wurde die bereits erstarrte Leiche von Girgis Tânjûs al-Andâri, 41 Jahre, in seinem Haus in der Ortschaft Barka gefunden. Nach der kriminalpolizeilichen Untersuchung stellte sich heraus, dass der Tod mindestens einen Tag vorher eingetreten war. Die Todesursache ist noch nicht bekannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist davon auszugehen, dass, wie aus diesem von der Blutfehde gepeinigten Dorf im Norden des Landes hinlänglich bekannt, al-Andâri ein neues Opfer in der blutigen Kette der Racheakte ist, auch wenn er keiner der großen, miteinander verfeindeten Familien angehört. Von der Klärung des Tathergangs erhofft man sich, den Racheakten in diesem alten libanesischen Dorf ein Ende zu bereiten. Die Redaktion von »Das Echo des Libanon« wünscht dem Dorf, dass es bald von dieser Heimsuchung erlöst wird, auf dass der Verstand und das Gesetz zur Beilegung der Streitigkeiten zwischen seinen Bewohnern beitragen mögen.
    (aus der Zeitung »Das Echo des Libanon«, Samstag, 27. April 1957)
    Hatten Nischân Hovseb Davidijân und sein Landsmann und Konkurrent Nazaret den Beruf des »Tageslicht-Fotografen« von ihren Vätern übernommen, die mit dieser Fertigkeit wiederum auf einer übereilten und tragischen Flucht aus Istanbul in den Libanon gekommen waren, so hatte Jorge – sein wahrer Name lautete Girgis al-Andâri – seine Leidenschaft für die Studio-Fotografie aus dem weit entfernten Montevideo mitgebracht. Einem der wenigen Menschen, mit denen Jorge in der neuen Heimat überhaupt sprach, hatte er erzählt, dass er das Metier bei einem deutsch-jüdischen Fotografen erlernt habe, der Ende der dreißiger Jahre vor den Nazis nach Bolivien geflohen war. Nur wenige im Ort erinnern sich heute noch an Jorge, diesen Jungen mit dem melancholischen ovalen Gesicht und dem allzeit zerzausten Haar. Er schien stets Wichtigeres zu tun zu haben, als sich um Banalitäten wie Kämmen, Rasieren oder Waschen zu kümmern. Wenige nur wissen mehr von ihm als seine ungefähre Abstammung und wer von seinen weit entfernten Verwandten noch am Leben war. Denn kaum ein Jahr nach seiner Rückkehr wurde er tot aufgefunden. Er war im Jahr 1956 wiedergekommen, auf dem Höhepunkt des Konflikts, von dem er aus der Ferne offensichtlich nichts mitbekommen hatte und der ihn hier nicht sonderlich beeindruckte. Tatsache war jedenfalls, dass man ihn tot fand. Kein Blut war geflossen in dem improvisierten »Studio«, welches in einem Zimmer inmitten eines von Orangenbäumen bestandenen kleinen Gärtchens hinter dem Haus seiner Familie eingerichtet war, das seiner Rückkehr geharrt hatte. Jorge wollte auf der Suche nach Fotografierwilligen nicht wie die armenischen Fotografen die Kameraausrüstung durch die Straßen schleppen, stattdessen hatte er in seinem Zimmer auf die Kunden gewartet. Anfangs suchte ihn tatsächlich so mancher Kunde auf, doch vor ihm zu posieren war ähnlich zermürbend wie vor einem Porträtmaler zu sitzen. Unzählige Male ging er zwischen der Linse und dem Kunden hin und her, um dessen Position in winzigen Details zu verändern. Pausenlos ermahnte er ihn, sich nicht zu rühren, während er ihm eigenhändig das Kinn nach rechts oder links drehte, etwas vom Jackett abklopfte oder einen Kamm holte, um eine widerspenstige Strähne zu bändigen … Er strapazierte die Nerven der Leute, die sich fotografieren lassen wollten, so sehr, dass sie ihn irgendwann nicht mehr aufsuchten. Er war unter unbekannten Umständen aus Montevideo zurückgekehrt, auch wenn es hieß – wie stets, wenn man die Geheimnisse im Verhalten eines Fremden aufdecken wollte –, er sei vor einer Frau geflohen. Sie sei in ihn verliebt gewesen, und weil er sie betrogen habe, verfolge sie ihn, um sich an ihm zu rächen. Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er in jenem Studio, so dass nur wenige enge Nachbarn seine Bekanntschaft gemacht hatten. Er verließ seinen Arbeitsplatz nur äußerst selten, und sogar dann nicht, wenn die Kugeln durch die nahe gelegenen Straßen sirrten. Es hieß, er habe sich entweder selbst umgebracht oder eine Frau habe ihm Gift verabreicht; denn ihm wurden Techtelmechtel nachgesagt, obgleich seine Erscheinung in

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