Morgen des Zorns
keiner Weise auf Verführungskünste oder ein Abenteurerdasein schließen ließ. Diejenigen, die ihn tot in seinem Zimmer gefunden hatten, schickten jedenfalls nach Nischân Davidijân. Die Kamera stand noch auf dem dreibeinigen Stativ, die Belichtungsausrüstung war komplett und erhellte den kleinen Raum von allen Seiten. Nachdem man den Toten fortgeschafft hatte, schickte Nischân sich an, den Inhalt des Zimmers zu inspizieren. Unbeobachtet, wie er war, steckte er die Fotos ein, die er in einer Tüte fand, und entnahm der aufgestellten Kamera den Film. Dann ging er zu seinem Laden, in der Hoffnung, eines der Geheimnisse dieses sonderlichen Fotografen aufzudecken. Als Nischân Jorges Fotos aus der Tüte unter die Lupe nahm, stieß er auf eine ansehnliche Sammlung von Frauenporträts. Er hob verwundert die Brauen. Die meisten Aufnahmen zeigten ein und dieselbe Frau, auf manchen Fotos waren auch zwei zu sehen, Frauen und Stoffe und ein Bett. Immer dasselbe Bett. Warum all diese Verschwendung von Filmen und Papier?, fragte sich Nischân, der seine eigenen Kosten stets penibel unter Kontrolle zu halten versuchte. Die Frauen auf den Fotos waren nackt, die Scham mit einem Stück Stoff bedeckt, aus Seide oder aus Satin. Immer waren es dieselben Tücher, die von den Frauen nur verschiedentlich benutzt wurden, mal legten sie sie sich über den Busen, mal warfen sie sie sich, wenn die Brust durch die Pose verdeckt war, mit einer ungekünstelten Koketterie über die Schultern. Kein Foto glich dem anderen, auf jedem nahmen die Frauen eine andere Körperhaltung ein. Verschiedene Posen, die dezent verführten, und Blicke, in denen keinerlei Provokation lag. Jedes Mal erfüllte der Stoff eine andere Funktion. Jorges Fotosammlung war wie eine Übung, die man so lange wiederholte, bis die perfekte Aufnahme geschossen war, die Nischân Davidijân natürlich nicht ausmachen konnte. Er fragte sich nur, ob die Frauen auf Jorge al-Andâris Fotos aus dem Ort stammten oder ob sie Fremde waren, womöglich hatte er sie in dem weit entfernten Montevideo aufgenommen, dort, wo es freizügiger zuging, wie Nischân sich vorstellte, so dass die Mädchen mit einer Leichtigkeit vor dem Fotografen posierten, wie er sie hier nicht für möglich hielt. Am nächsten Tag machte Nischân sich daran, den Film zu entwickeln, den er in der Kamera auf dem dreibeinigen Stativ gefunden hatte. Es war offensichtlich, dass der Fotograf eine seltsame Art und eine Neigung zur Verschwendung von Filmmaterial gehabt hatte, denn bald bemerkte Nischân, dass auf all den Fotos, die Jorge vor seinem Tod aufgenommen hatte, nur dieser selbst zu sehen war, es handelte sich um etwa zwanzig Fotos, Selbstporträts, alle von Jorge al-Andâri. Sie glichen sich in einem Maße, dass man auf den ersten Blick kaum Unterschiede zu erkennen vermochte, auf allen saß er auf einem Stuhl und blickte geradewegs in Richtung Objektiv, nicht mehr und nicht weniger. Nischân begriff, dass Jorge die Aufnahmesituation vorbereitet und sich dann in aller Eile vor die Kamera gesetzt hatte. Prüfend schaute Nischân die Fotos durch und erkannte, dass sie in der richtigen Reihenfolge eine zunehmende Ermattung auf Jorges Gesicht anzeigten. Ein Foto nach dem anderen, mehr und mehr irrte sein Blick umher, die Gesichtszüge zogen sich zusammen, als leide der Porträtierte unter zunehmend stärkeren Schmerzen. Nischân kam zu dem Schluss, dass dieser junge Fotograf gewusst hatte, dass er dem Tode nahe war, und dass er alles darangesetzt hatte, die letzten Augenblicke seines Lebens festzuhalten. Das veranlasste den Armenier zu der Annahme, Jorge habe sich entweder selbst vergiftet oder sei vergiftet worden. Als diesem bewusst geworden war, dass er seinen letzten Kampf ausfocht, musste er mit allen Mitteln versucht haben, seinen Tod zu fotografieren. Auf allen Fotos trug er jene Kleidung, die er anhatte, als man ihn auf den Stuhl geworfen vorfand, auf den sich zu setzen er früher seine Kunden aufgefordert hatte. Nach seinem Tod teilten seine Verwandten das Inventar des Hauses unter sich auf, und einer von ihnen versuchte später, die Fotoausrüstung an Nischân zu verkaufen, der sie jedoch ablehnte. Nicht nur, weil er keinen Bedarf dafür hatte, sondern weil ihn das seltsame Gefühl beschlich, Jorges Habseligkeiten nicht antasten zu dürfen, als ob ihnen ein Fluch anhafte, der sich auf ihn übertragen könne.
Heiratsfreudiger tappt in die Falle!
In Tripolis beschuldigte eine Frau, M. N., vor dem Richter
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