Morgen des Zorns
waren ihm keine Anzeichen von Überdruss anzumerken. Die Art, wie er immer wieder seine Sitzhaltung veränderte, ließ darauf schließen, dass er bereit war hierzubleiben, hinter dem Mühlstein, bis »Gott es richten« würde. Er schlief nicht. Muhsin arbeitete, und wir waren die Nachlässigen, die sich langweilten. In der Hoffnung, bei den anderen Barrikaden Aufregenderes zu erleben, wandten wir uns oft von ihm ab.
Vom ersten Tag an, an dem er die Barrikade mit dem Mühlstein übernommen hatte, verfolgte er einen Plan. Ganze dreieinhalb Monate wartete er auf seine Chance. Er richtete die Mündung seines Gewehrs auf die ungeschützte Öffnung, an der die Männer der gegenüberliegenden Barrikade bei der Wachablösung vorbeischlüpfen mussten. Es war eine Öffnung von der Größe eines kleinen Fensters. Muhsin konnte erkennen, wie sie diese Luke in aller Eile passierten. Ein Schatten nur, der da vorüberhuschte. Er wartete auf einen Tag, an dem einer seiner Gegner sich vergaß, an dem dieser ungeschützt – und sei es nur für Sekunden – seine Barrikade bezog. So hat er es uns später erzählt. Und so geschah es am 10. August um genau halb eins. Mit einem einzigen Schuss aus seinem »geradläufigen« Gewehr streckte er ihn hin. Er traf ihn in den Kopf … Kurz vor dem Mittagessen, als die Sonne brannte. Er hatte einen von uns noch gebeten, Catherine auszurichten, sie brauche ihm kein Mittagessen zu bringen, da er nicht hungrig sei. Und unter Vorwegnahme dessen, was sie entgegnen könnte, fügte er hinzu:
– Und sag ihr, dass ich nicht krank bin …
Dann befahl er uns zu verschwinden. Sein Ton war streng. Wir gehorchten auf der Stelle, denn wir rechneten damit, dass etwas passieren würde. Wir versteckten uns, beobachteten ihn aber weiterhin. Es blieb ein Geheimnis: Woher hatte er gewusst, dass sein Gegner von der Barrikade in dem alten dreistöckigen Gebäude in einigen Minuten ohne Deckung vor ihm erscheinen würde?
Zum ersten Mal blickte er sich um, bevor er zielte. Er schmiegte die Wange an den Lauf, umfasste das Gewehr und schaute in die Ferne. Dies war sicher die längste Liebkosung, die wir zwischen Muhsin und seinem Gewehr erlebt hatten. Mehr als zehn Minuten dauerte sie an. Und dann, ganz unvermittelt, ohne jegliche vorherige Regung, feuerte Muhsin eine einzige Kugel ab. Sie durchbrach die Stille, die zur Mittagszeit jenes heißen Sommertags über den verfeindeten Linien lag. Auf Muhsins Schuss folgte keine Antwort, im Gegenteil, die Stille wurde noch durchdringender. Wenige Minuten später hörten wir auf der anderen Seite den Schrei einer Frau. Da erhob sich auf unserer Seite der Jubel, und die Kugeln prasselten nieder wie ein Regenschauer.
Er war geduldig im Kampf, der Muhsin.
XVI
Kâmleh hatte geglaubt, sie hätte jetzt ihre Ruhe. Sie hatte die Tür abgeschlossen und einfach den Schlüssel aufs Dach geworfen. Jûssef war gestorben, und Kâmleh hatte sich aus dem Leben gestohlen. Das Seltsame war, dass ihr das Witwendasein kein schreckliches Leiden zu sein schien – zumindest zu Beginn nicht, das heißt, nach der ersten Woche, als die Beerdigung und die Beileidsbesuche vorüber waren.
Sie würde sich zum Beispiel nicht mehr waschen, oder erst, wenn ihr Geruch unerträglich geworden wäre, wenn Muntaha, die ihr am nächsten stand, sie darauf aufmerksam machen würde. Sie würde auch die Unterwäsche nicht mehr täglich wechseln, sie würde sich keine Locken mehr drehen, und sie hatte auch keine Angst mehr vor dem Ergrauen. Das Schwarz entband sie von der Mühe, die Kleider zu wechseln. Nur die schwarzen Strümpfe empfand sie in jenen heißen Tagen als lästig, sie kratzten an den Beinen.
Sie hatte sich ein wenig Ruhe gegönnt, sie, die Kleinste der Familie, das Nesthäkchen, dem nie ein Wunsch abgeschlagen worden war. Sie hatte sich die Last der Welt ganz einfach von den Schultern genommen. Sie hatte aufgehört zu kochen, die Zucchini auszuhöhlen und sich die Beine zu enthaaren, Schmerzen zu empfinden und die Ärzte aufzusuchen, die Frauenärzte im Besonderen. Sie würde ihre Beine für niemanden mehr breit machen, ihr Körper würde intakt bleiben, und der große Kampf würde nicht stattfinden. Man würde ihr nichts entreißen, und sie würde keine Qualen leiden.
Ihr Leben würde eintönig verlaufen, eine Stunde der anderen gleichen, nur die Winterkälte und die schwüle Hitze des Sommers würden sich abwechseln, und sie würde davon nehmen, was sie brauchte, mehr nicht. Ab heute würde sie
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