Morgen des Zorns
gesehen hatten, versucht zu schießen. Stattdessen hätten sie ihn seines Wegs gehen lassen, weil sie sich nicht wegen einer solch lächerlichen Beute selbst hätten in Gefahr bringen wollen. Also seien sie langsam weiter vorgerückt, tief hinter den feindlichen Linien in ein Haus eingedrungen und mit dem Foto des Vaters des Hausbesitzers zurückgekehrt, das dort an der Wand gehangen hatte. Der Hausbesitzer hatte immer voller Stolz mit den glorreichen Taten seines Vaters geprahlt, und nun riefen sie diesem lauthals, von Barrikade zu Barrikade, zu, was sie getan hatten, und dass sie jetzt auf das Foto seines Vater pinkeln würden und dass sie den Metzger Neamatallah am Hintern hätten treffen können, wenn sie nur gewollt hätten.
Muhsin lachte über ihre Heldentaten und spornte sie sogar an, doch in tiefster Seele wusste er, dass so etwas dem wirklichen Kampf keinen Nutzen bringt. Er jedenfalls beteiligte sich nicht an solchen Aktionen und nicht am Stellen von Fallen auf weit entfernten Straßen.
Er kämpft einen regulären Krieg, der Muhsin.
Sein Krieg hatte Regeln, und niemand wusste, woher Muhsin diese hatte. Zu jeder Art von Gefecht hatte er eine eigene Vorstellung und eine klare Haltung. Greife deinen Gegner erst an, wenn sich zur Zeit des tiefsten Schlafs das erste Licht ausbreitet. Gib niemals nur einen Schuss auf deinen Gegner ab, denn vielleicht bleibt ihm ja noch immer die Kraft, dich zu töten. Schau dem Schützen in die Augen … Trotzdem hätte er ausgerechnet Pater Bûlos fast erschossen. Als er einmal nach langem Betteln unsererseits eingewilligt hatte, von diesem Vorfall zu erzählen, hatte er allerdings seinen Fehler nicht eingestanden. Er wunderte sich, dass er ihn nicht getroffen hatte, und wir hatten in dem Moment dieser seiner Verwunderung das Gefühl, es wäre, um Muhsins Rufs willen, besser gewesen, Pater Bûlos wäre getroffen worden, wenn auch nicht tödlich. Pater Bûlos hatte ihn an jenem Tag hintergangen.
Wenn der Pater von einem Viertel ins andere hinüberwechselte, kündigte er sich jedes Mal mit lauter Stimme an. Nur er allein bewegte sich zwischen den beiden Parteien hin und her und überbrachte dabei Neuigkeiten und Briefe. Neuigkeiten darüber, wer durch die Kugeln der anderen Seite und wer eines natürlichen Todes gestorben war, wie es den kranken Verwandten ging, aber auch Mitteilungen wie: »Das sind hundert Pfund von deiner Tante, denn man hat ihr erzählt, dass ihr in diesen schwierigen Tagen klamm seid«, oder: »Sag deinem Neffen, er möge auf sich aufpassen«; ebenso geheime Botschaften, die ganz tief in den Ohren derer blieben, für die sie bestimmt waren.
Eines Tages war er so in Gedanken versunken und erregt gewesen, dass er vergessen hatte, sich bemerkbar zu machen. Er hatte sich entschieden, in unser Viertel herunterzukommen und denjenigen, die es betraf, mitzuteilen, dass Syrien »ihnen« – also der anderen Seite – einen Granatwerfer geschickt hatte. Sie würden ihn in Kürze aufstellen und uns damit beschießen, und niemand könne sich vor einem Granatwerfer in Sicherheit bringen. Kaum hatte Muhsin am Anfang der Straße einen Schatten entdeckt, da gab er einen Schuss ab. Pater Bûlos wurde von Steinsplittern getroffen, die von der Mauer spritzten, in die die Kugel eingeschlagen war. Muhsin hatte kaltblütig abgedrückt, und ihm war, selbst als er sich seines Fehlers bewusst wurde, kein Bedauern anzumerken.
Gewiss, »seine Front« war im Vergleich zu anderen relativ ruhig, doch in den sechs Monaten, die Muhsin hinter seinem Mühlstein verbrachte, wurde Mitte Juli ein Infiltrierungsversuch unternommen, der Muhsin Unterstützung anfordern ließ. Er war »ganz Ohr«, er spürte jede Regung auf der anderen Seite. Das Vorbeilaufen eines Hundes oder einer Katze weckte seine ganze Aufmerksamkeit. Oder auch das von oben herabfließende Wasser des Baches. Seine Wachsamkeit steigerte sich noch, weil er ein Manöver oder eine List vermutete. Er wusste genau, wer die Männer waren, die hinter der gegenüberliegenden Barrikade standen. Er kannte sie mit Namen und er erkannte sie am Sirren der Kugeln aus ihren Waffen, an der Art, wie geschossen wurde, maschinengewehrartig oder Schuss um Schuss. Und sobald er die Kugeln hörte, rief er den Schützen ohne Zögern beim Namen.
An anderen Tagen – und es waren lange Tage – »hütete er seine Barrikade«, wie Muhsin sich gerne ausdrückte. So wie der Anstand es allzu neugierigen Frauen gebietet, »das Haus zu hüten«. Es
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