Morgen des Zorns
Nachtwachen zu übernehmen; er war der ältere Bruder, und die Nacht barg Gefahren. Womöglich würden sie sich nachts auf unsere Seite schleichen, dann wollte er selbst dort sein. Er wollte nicht, dass sein kleiner Bruder sich in Gefahr begab. Doch er konnte es nicht aushalten da draußen im Freien. Die ganze Nacht lang ließ er Winde fahren. Er war wie eine Windfabrik, entweder er ließ einen fahren oder er rülpste. Beides war nicht zu überhören, und Muhsin wollte oder konnte es gar nicht unterdrücken. Und so war seine Musik, besonders in dunkler stiller Nacht, weithin vernehmbar.
Er kämpft tagsüber, der Muhsin.
Den Männern, die nachts an den Barrikaden wachten, wurde geraten, Warnschüsse abzugeben, damit die Feinde wussten, dass wir bereit waren, sie mit unserem Feuer zu empfangen. Sie sollten gar nicht in Versuchung kommen, sich unseren Linien zu nähern. Tagsüber aber passierte nicht viel. Um die Langeweile zu durchbrechen, beschimpfte man sich gegenseitig, sonst geschah nichts. Meist fingen die anderen an. Wahrscheinlich waren die Gegner auf der anderen Seite vom langen Stehen hinter ihren Barrikaden noch gelangweilter als wir. Einer von ihnen machte den Anfang, seine Stimme drang aus dem dreistöckigen Gebäude zu uns herüber, von hinter den Sandsäcken, mit denen sie die durch das Herausreißen der Fenster entstandenen Öffnungen verschlossen hatten. Sie knauserten mit den Kugeln. Die Munition war sehr kostbar, denn sie erhielten nur kleine Mengen. Sie bekamen sie aus Syrien; ihre Waffen kamen aus dem Osten, unsere aus dem Westen. Sie nahmen die Waffen einen Augenblick herunter und begannen Beleidigungen auszutauschen. Beleidigungen, fast so hart wie Kugeln. Ein Geschrei, ein Wust von Beschimpfungen füllte die Leere, die die beiden Viertel voneinander trennte, und nach einer Weile wurden die von durchwachten Nächten und dem Rauchen selbstgedrehter Zigaretten heiseren Stimmen wieder von den Explosionen der Handgranaten und dem Knattern der FM 24/29-Maschinengewehre übertönt.
Ein Mann rief Muhsin bei seinem Namen. Muhsin wusste, wer da an der gegenüberliegenden Barrikade stand. Er rief ihn. Er kannte ihn, und es hieß sogar, die beiden seien entfernte Verwandte. Er hob den Kopf in seine Richtung, wenn der andere zu schreien anfing und ihn provozierte. Muhsin lächelte ein wenig, aber er blieb standhaft, er antwortete nicht auf das Gebrüll. Er ertrug die Provokation. Die Zwiesprache begann mit einer Herausforderung, einem unvermittelten:
– Komm raus, Muhsin, wenn du ein Mann bist …
Kurz darauf folgte eine andere Stimme:
– Zeig deinen Kopf, du Feigling!
Er ertrug die Beleidigung seiner Familie und seiner Nachkommenschaft bis hin zur Beschimpfung der Heiligen. Sie trauten sich jedoch nicht, kein einziges Mal, die Jungfrau zu beleidigen, deren Kirche in unserem Viertel stand. Dafür beschimpften sie das Oberhaupt unserer Familie. Sie gingen sogar so weit, unsere geliebten Toten zu verspotten. Die Stimmen und die Tonlage veränderten sich bisweilen, denn sie wechselten sich beim Schreien auf der gegenüberliegenden Barrikade ab. Muhsin aber gab keine Antwort. Er gab keine Antwort, weil er dachte, es handele sich um eine Falle. Sie würden anhand seiner Stimme seine Position lokalisieren und ihn erwischen wollen. Das glaubte er, oder zumindest gebrauchte er es als Vorwand, um nicht in diesen Chor einstimmen zu müssen.
Wenn er seinen Namen hörte, spitzte er die Ohren wie ein Hase. Nur eine Schmähung konnte er nicht ertragen: wenn der Name seiner Frau herüberdrang. Bumsen werde er die Catherine, tönte es von der Barrikade im gegenüberliegenden Gebäude,
– … weil du deine Pflichten nicht erfüllst, wie es sich gehört, Muhsin!
Muhsin ließ ihn den Satz nicht zu Ende bringen. Er stand von seinem Stuhl auf, zog sein Gewehr aus der Schießscharte zwischen den Sandsäcken hervor und begann im Stehen und ungeschützt in Richtung der Spötter zu schießen. Er leerte einen kompletten Ladestreifen, dann legte er einen zweiten ein und verschoss ihn gleichfalls, bis sein Zorn sich gelegt hatte. Es war das erste Mal, dass Muhsin von den Regeln seiner strengen Disziplin abwich, und es war das erste Mal, dass wir uns heimlich an seine Barrikade heranschlichen, um die leeren, noch immer heißen Patronenhülsen aufzusammeln. Er überschüttete sie mit Kugeln, doch er sagte nichts. Er antwortet mit keiner Silbe.
Er kämpft schweigend, der Muhsin.
Als ihn bei Sonnenuntergang einer seiner
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