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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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Geier um uns versammelten, um nur ja nichts zu verpassen. Als ich ausstieg, läutete Silvers Telefon, und so blieb er sitzen, um ungestört telefonieren zu können. Ich wollte ihn fragen, weshalb man nicht vorher hier gesucht hatte, doch Deb geleitete mich schon durch die Menge.
    Der bebrillte Polizist von neulich stand in einem der struppigen Vorgärten, ein wenig entfernt von einer Gruppe Uniformierter, und rauchte einen Stumpen. Er sah Silver zuerst und hob die Hand zum Gruß. Dann entdeckte er mich. Ich konnte den Blick in seinem schwermütigen Gesicht nicht recht deuten. Eilig trat er die Zigarre aus und schnauzte einer Beamtin einen Befehl zu, die schnell in das Cottage ging. Mein Herz tat einen Sprung. Ging sie etwa hinein, um meinen Sohn zu holen? Ich fing zu laufen an, doch als ich an der Absperrung angekommen war, hielt mich ein förmlicher junger Polizist auf. Ich wollte mich gerade an ihm vorbeidrängen, als Silver mich zurückhielt. Er zeigte seinen Ausweis und schob mich vor sich her in den Garten.
    Dann kam die Polizistin mit leeren Händen wieder heraus und murmelte dem Bebrillten etwas zu. Er trat auf uns zu, um uns zu begrüßen, und schüttelte Silvers Hand. Ich konnte meine Ungeduld kaum bezähmen, aber irgendetwas stimmte hier nicht, das war offensichtlich. Ich wollte fragen, doch meine Stimme versagte. Als ich endlich etwas herausbrachte, hörte es sich nach heiserem Krächzen an.
    »Louis?«, bettelte ich. »Ist Louis hier?« Ich sah, wie der Bebrillte zögerte, worauf eine Welle der Panik mich mitriss. Jetzt war ich zur menschlichen Zeitbombe geworden, tickte vor Angst. Ich zitterte so sehr, dass meine Beine mich nicht mehr länger trugen. Ich sah ihnen an, dass sie mir gleich eine schlechte Nachricht schonend beibringen würden, und flüsterte tonlos: »Was ist?« Silver sah den Bebrillten streng an. Deb legte den Arm um mich.
    Dann ergriff Silver das Wort und sagte: »Es ist nicht Louis, Jessica. Louis ist nicht hier.« Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, denn wenigstens hatten sie mir nicht das gesagt, was ich tief im Herzen befürchtet hatte, dass Louis nämlich tot sei, sein kleiner Körper steif in diesem kleinen, feuchten Haus lag, mit ausgestreckten Armen, weil er darauf wartete, dass ich ihn rettete. Irgendwo war er noch immer in Sicherheit, doch Silver hatte weitergesprochen. Er stand vor mir, hielt meine beiden Hände und führte mich von der Gruppe weg. Der Bebrillte wandte sich ganz langsam um, alles lief ab wie in Zeitlupe. Ich konnte seine Schultern Millimeter um Millimeter herabsinken sehen. Dann sagte Silver:
    »Es ist Robbie, Jess. Robbie ist tot.« Ich fing wieder an zu lachen, denn das musste doch ein Witz sein, dann antwortete ich: »Das ist doch Unsinn. Wie kann er tot sein? Er hat mich doch gerade angerufen?« Debs Arm schloss sich enger um mich, aber ich schob sie weg und sah Silver direkt in die Augen. »Hören Sie auf, mich anzulügen!«, sagte ich, doch dann merkte ich, dass er nicht log. Und ich ging in die Knie, als habe er mir einen Faustschlag in den Magen versetzt. Ich konnte nicht mehr atmen, ich keuchte nur noch, dann wurde mir schlecht. Ich würgte, dann erbrach ich mich. Es war mir egal, wer dabei zusah. Ich richtete mich auf die Knie auf. Dann zog ich mich langsam in die Vertikale. Ich brauchte ein oder zwei Minuten dafür, aber ich schaffte es.
    Ich bewegte mich wie im Traum. Sicher war das Ganze auch ein Traum. Ich trat auf das Cottage zu und sagte: »Ich will ihn sehen.« Silver antwortete über meine Schulter: »Finden Sie nicht auch, dass das keine gute Idee ist?« Ich brüllte ihn an: »Lassen Sie mich meinen Bruder sehen. Ich will meinen Bruder sehen, bitte!« Dann stolperte ich auf das Cottage zu, und sie folgten mir.
    Das Innere war erfüllt von lärmenden Stimmen, ich meinte sogar Gelächter zu hören, bevor man mich im Türrahmen stehen sah. Wie konnten sie nur? Die Toten waren noch nicht einmal kalt, und man lachte bereits.
    Auf den alten Dielenbrettern, die gut eine Runde mit der Putzbürste vertragen hätten, lag Robbie. Er sah aus, als schlafe er. Mein kleiner Bruder schlief auf dem Boden, wie er es getan hatte, als wir noch Kinder waren. Mein Robbie rollte sich immer irgendwo zusammen und machte ein Nickerchen. Ich stand im Türrahmen und sah ihn an, die Beamten von der Spurensicherung in ihren unmöglichen Anzügen, die Polizeifotografen, das alles wich zurück in den Nebel, während ich meinen Bruder betrachtete. Sie sahen

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