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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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mich an, und irgendwie verschwanden alle, bis nur noch Robbie in dem muffigen Raum war. Er hatte die Knie angezogen, ein Arm lag seitwärts ausgestreckt. Er sah aus, als sei er fünf.
    Dann ging ich auf ihn zu und kniete neben ihm nieder. Ich nahm seinen Kopf in meine Hände und legte ihn auf meine Knie. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er allein gestorben war. Er hatte die Dunkelheit immer gehasst, mein großer starker kleiner Bruder. Ich beugte mich über ihn und küsste ihn auf die Lippen, auch wenn sie eiskalt waren. Ich wiegte den dunklen Kopf in meinen Armen und flüsterte: »Wach auf, Rob. Es ist Zeit.« Nur dass er nicht aufwachte. Sich nicht bewegte. Nicht einmal mit der Wimper zuckte. Er war nur kalt und still.
    »Wach auf, Robbie, bitte, wach auf«, wiederholte ich drängend. Aber mittlerweile wusste ich, dass er das nicht tun würde. Tränenlos strich ich über seine wirren Locken und starrte auf ihn hinab. Erst da sah ich die Spritze neben ihm, den abgebundenen Arm, der ganz schwarz war. Aber, so dachte ich, wenigstens sieht er friedlich aus. Dann legte ich meinen Kopf neben seinen auf die Erde, und endlich lösten sich die Tränen. Ich weinte um den Kameraden meiner Kindheit, der mich nun ein für alle Mal allein gelassen hatte. Um mich und diesen Babybruder, dem ich die Flasche gegeben, den ich stolz im Park herumgefahren hatte, obwohl der Kinderwagen größer war als ich. Meinen kleinen Bruder, der unten im Stockbett schluchzte, wenn unsere Eltern stritten, und immer dachte, wir würden es nicht bemerken. Der vor Freude quietschend mit mir um dieses Haus gelaufen war. Meinen kleinen Bruder, dem ich Kekse zum Tee gegeben hatte, weil unsere Mutter zu daneben war, um zu kochen. Mit dem ich mich hinter dem durchgesessenen Sofa versteckt hatte, wenn Tom Baker in Dr. Who gegen die Daleks kämpfte. Wir hielten uns die schweißnassen Hände, bis Leigh uns eines Tages entdeckte und zu lachen anfing. Ich hielt mich an ihm fest, als würde ich ihn nie loslassen können. Die Trauer brach mir das Herz. Ich trauerte um all seine Träume, die nie wahr geworden waren, um das verschwendete Leben meines Bruders.
    Schließlich kniete Silver sich neben mich und flüsterte sanft: »Kommen Sie, Jess. Wir müssen sie weitermachen lassen.« Aber ich wollte meinen Bruder nicht hierlassen, wo es so kalt und einsam war, weil der Wind um die Häuser peitschte.
    »Bitte«, wisperte ich. »Ich kann ihn einfach nicht hier allein lassen.« Silver antwortete: »Ich weiß. Aber die Jungs hier müssen ihre Arbeit tun. Dann wird man ihn an einen schöneren Ort bringen, das verspreche ich Ihnen.«
    »Wo es hell ist?«, fragte ich traurig, dabei wussten wir doch beide, dass das Licht für Robbie nun ein für alle Mal erloschen war. Doch Silver nickte und sagte: »Das nehme ich doch an.« Und so zog ich meinen Pullover aus und legte Robbies Kopf darauf, so sanft ich nur konnte.
    Dann küsste ich ihn noch einmal, zum letzten Mal in meinem Leben, und ließ zu, dass Silver mich hinausgeleitete, hinüber zu seinem Wagen. Deb brachte mir heißen, süßen Tee und legte eine Decke über meine zitternden Schultern. Sie legte den Arm um mich, damit mir warm wurde, während ich Unsinn redete.
    »Ich muss Leigh anrufen«, wollte ich gerade sagen, als Silver sich wieder zu uns gesellte. »Es wird alles gut, Kindchen«, sagte er. Dann kam die Polizistin, die der Bebrillte vor mir ins Cottage geschickt hatte, mit einer Plastiktüte an. Als sie Silver diese überreichte, warf sie mir einen so mitleidigen Blick zu, dass es schon fast obszön war.
    »Warum haben Sie ihn denn nicht vorher gefunden? Als wir zum Leuchtturm fuhren? Ich habe Ihnen doch von dem Cottage erzählt«, fragte ich wie betäubt.
    »Damals waren sie noch nicht in diesem Cottage, Jess, das schwöre ich Ihnen. Es wurde von oben bis unten durchsucht. Alle Häuschen. Wir glauben, dass sie damals in einem anderen Mietshaus auf der anderen Seite der Straße waren.« Silver deutete auf ein paar Häuser hinter uns. »Wir versuchen gerade, den Besitzer aufzuspüren. Ich weiß, dass das ein Schock für Sie war, Jessica«, fuhr er fort, »aber Sie müssen jetzt stark sein, in Ordnung? Schaffen Sie es, mir noch ein wenig zu helfen?« Ich nickte dumpf. Schließlich war Louis immer noch verschwunden, und ich musste ihn wiederhaben. Dann zog Silver etwas aus der Plastiktüte. Eine Perücke mit langen, blonden Haaren. Und noch etwas. Ein winziger, selbstgestrickter Cardigan, der in Louis’

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