Morgen früh, wenn Gott will
draußen, alle sind draußen und suchen nach ihm. Hat Deb dir erzählt, dass man sein Jäckchen gefunden hat?«
»Ja, Gott sei Dank. Jetzt wissen sie wenigstens, dass sie ganz nah dran sind.«
»Oder …« Der Kloß in meinem Hals wurde dicker.
»Was ist denn, Jess?«
»Oder dass er nahe war. Maxine ist völlig von der Bildfläche verschwunden.«
»Die blöde Schlampe.« Dann sagte Leigh leise: »Ich wollte dir noch etwas sagen. Es war … Ich habe Maxine dorthin mitgenommen.«
Ich begriff nicht gleich. »Was? Wohin?«
»Nach Birling Gap. Vor einigen Wochen, erinnerst du dich. Du warst an dem Tag beim Friseur. Damals nahm ich Maxine und die Kinder mit zu einem Ausflug ans Meer.«
Ich dachte an den ganzen Sand, der sich in Louis’ Tasche angesammelt hatte. »Ach ja! Guter Gott, Leigh, glaubst du etwa, sie hat das alles geplant?«
»Ich weiß es nicht, Liebes. Jetzt habe ich noch etwas, für das ich mich mies fühlen kann.«
»Stell dich nicht so an. Wenn es nicht hier passiert wäre, dann irgendwo anders.«
»Ja. Vermutlich. Ist ja auch egal: Ich hab’s Inspector Silver gesagt.«
Schweigen. Ich wollte nicht einhängen.
»Oh Gott, Leigh. Ich kriege Robby einfach nicht aus dem Kopf. Ich werde das nie vergessen.«
»Ich weiß, Kleines. Aber du musst jetzt stark bleiben, für Louis. Ich bin sicher, es wird nicht mehr lange dauern. Denk immer daran.«
Wieder kehrte Schweigen ein, doch es hatte eine angenehme, beruhigende Note. Schließlich verabschiedeten wir uns. Irgendwann würde ich mich mit meinen Dämonen auseinandersetzen müssen.
»Wenn ich Louis bald zurückbekomme«, sagte ich zu Deb, »werde ich meinen Schlaf ohnehin brauchen.« Sie schloss sich meinem falschen Lächeln an, doch ich spürte die Sorge hinter der freundlichen Fassade. Hastig umarmte sie mich. »Versuchen Sie zu schlafen.« Ich verzog das Gesicht. »Versuchen Sie es einfach. Bis morgen früh also. Wenn Sie mich brauchen sollten, rufen Sie mich.«
»Danke.«
Und so lag ich zu guter Letzt endlich im Bett und hatte nur meine Kopfschmerzen als Gesellschaft. Durch die offenen Vorhänge sah ich viele kleine Lichter, die draußen auf offener See flackerten. Auf und ab hüpften sie, auf und ab. Da braute sich ganz bestimmt ein Sturm zusammen. Ich dachte an Robbie, und mir krampfte sich das Herz zusammen. Wie kalt ihm gewesen war. Schmerz stieg in mir auf. Ich hätte es wissen, vorhersehen sollen. Ich hätte meinen Bruder retten können. Ich war so sehr mit Louis beschäftigt gewesen, dass ich den armen Robbie völlig vernachlässigt hatte. Die Trauer dröhnte in meinen Ohren, bis ich schreien wollte, nur um dieses Geräusch zu übertönen. Schließlich klopfte jemand sachte an die Tür. Ich öffnete. Vor mir stand Silver, gähnend.
»Ich wollte nur nachsehen, ob es Ihnen gut geht.« Seine kurzen Haare wirkten zerrauft. »Kann ich einen Moment hereinkommen?«, fragte er, stand aber schon längst in der Tür. Ich marschierte zurück ins Bett, schweigend, weil ich ohnehin nicht wusste, was ich sagen sollte. Er drückte sich zu meinen Füßen herum.
»Wir sind nah dran, Jess, ich schwöre es Ihnen«, sagte er. Ich drehte mich um, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. Langsam zog er die Schuhe aus und legte sich ohne etwas zu sagen zu mir. Ein vorsichtiger Versuch, denn er war vollständig bekleidet. Da lagen wir nun, Seite an Seite, und starrten gemeinsam mit heißen, trockenen Augen an die Decke. Mein Körper wartete angespannt, ob er es wagen würde, mich zu berühren, wonach ich mich in Wirklichkeit sehnte. Endlich bewegte er sich und nahm mich in den Arm. Ich war steif wie ein Bügelbrett und überlegte einen Augenblick lang, ob ich mich wegdrehen sollte, tat es aber am Ende nicht. Ich konnte es nicht. Ich konnte mich nicht von ihm abwenden. Betrog ich damit die Menschen, die ich liebte – Louis, Robbie, Mickey? Ich wusste es nicht. Es war mir egal. Ich wusste nur, dass es sich seltsam richtig anfühlte, hier mit Silver zu liegen.
Spillerige Regenfäden begannen, die Fenster herunterzulaufen. Mein Körper gab allmählich nach, Muskel für Muskel. Er hielt mich einfach im Arm, bis ich mich ein wenig entspannt hatte. Ich vergrub mein Gesicht in seinem Hemd, das schwach nach Zitronen duftete, und versuchte, die Augen zu schließen und die Geister zu bannen, die in meinem Gehirn wisperten.
»Ich hätte ihm helfen sollen, Silver. Ich hätte es gekonnt«, sagte ich. Dann kamen die Tränen. »Schschsch«, murmelte er in mein Haar, bis ich
Weitere Kostenlose Bücher