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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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ganz Besonderes an sich. Etwas, dem ich nie widerstehen konnte.«
    Ich dachte an Mickey und mich. Wie ich mich anfangs gegen dieses Gefühl der Anziehung gewehrt hatte. Wie ich gekämpft hatte und doch gescheitert war. Ich drückte ihre Hand – die alternde Hand meiner Mutter.
    »Lieber Gott, ich liebte deinen Vater so sehr. Ich weiß, dass du mich verstehst. Du warst immer sein kleiner Liebling, du mit deinen ungebärdigen Locken.« Ich suchte in ihrem Gesicht nach Spuren der alten Eifersucht, doch heute blieben sie aus. Sie nahm es einfach als Tatsache hin. Dann ließ sie die Reste ihres Gins im Glas kreisen und starrte hinein, als wandere ihr Blick zurück in die Vergangenheit. »Ich sehe euch heute noch, euch drei. Ihr wart so hübsche Kinder, so unglaublich schön. Ich war so unglaublich stolz auf euch, weißt du.«
    Ich war überrascht. »Wirklich? Du hast das nie offen gezeigt.« Wenigstens mir nicht.
    »Nein, aber ich hätte es tun sollen. Aber ich war immer so mit eurem Vater beschäftigt. Mein Gott, dieser Mann war mein Tod.« Ein verdammt lebendiger Tod. Sie sog an ihrer Zigarette, als sei dies ihre einzige Verbindung zum Leben. »Ich war zu hart zu dir, Jess. Heute weiß ich das. Vielleicht hast du mich immer an mich selbst erinnert …«
    Lieber Himmel. Hoffentlich nicht.
    »Weißt du, ich sehe dich heute mit Louis und Leigh mit ihren Mädchen, und dabei scheint es erst gestern gewesen zu sein, dass ihr drei kleine Kinder wart. Manchmal frage ich mich, wo die Zeit hingekommen ist.« Ihr Gesicht zog sich zusammen wie eine zerknüllte Papiertüte. »Und jetzt. Lieber Gott, mein kleiner Junge. Oh, mein Gott.« Jetzt liefen ihr die Augen endlich über, vergossen all die Tränen, die sie jahrelang zurückgehalten hatte. Jetzt liefen sie ihr über die ledrigen Backen. »Ich kann nicht …« Ein Schauder der Verzweiflung schüttelte ihren ausgemergelten Körper. »Ich kann einfach nicht glauben, dass er tot ist. Dass ich ihn nie mehr sehen werde. Meinen kleinen Jungen.«
    Ich drückte ihre Hand fester. »Ich weiß«, flüsterte ich. »Ich auch nicht.«
    Stumm saßen wir da. Ich sah zu, wie die Asche an ihrer Zigarette immer länger wurde und sich nach unten bog, bis Louis, der auf dem von Leigh gestifteten Schaffell lag, fröhlich quietschte, während er den weichen Plüschbären umherschwang, sodass das Glöckchen in seinem Inneren erklang. Sein genialer Einfall ließ meinen Sohn glucksen. Dann schüttelte er ihn noch einmal, bevor er ihn uns auffordernd hinstreckte.
    »Da«, sagte er aus vollstem Herzen. Meine Mutter sah ihn an. Sie schniefte noch einmal, dann hörte sie auf zu weinen.
    »Komm her, Spätzchen«, gurrte sie und streckte beide Arme nach ihm aus. Louis sah sie ernst an. Sein kleines Mondgesicht spannte sich vor lauter Konzentration an. Dann ließ er sich nach vorne fallen und arbeitete sich mit seinen Ärmchen Richtung Oma vor, als habe er in einem Militärcamp robben gelernt.
    »Weißt du, Mama, wenn Robbie nicht gewesen wäre, hätten wir Louis vielleicht nie zurückbekommen. Er war es letztlich, der das Baby gerettet hat.« Ich sah zu, wie mein Sohn riesenhafte Anstrengungen unternahm, um das Schaffell zu durchpflügen. In seinen Zügen malten sich alle Anzeichen seines heldenhaften Bemühens. In seinem dunkelroten Mund schimmerte der einzige Zahn wie eine Solitärperle. Jetzt musste ich selbst die Tränen zurückhalten. Ich hatte immer gewusst, dass mein kleiner Bruder eines Tages wieder auf den richtigen Weg zurückfinden würde.
    »Siehst du, mein Engel, so war das. Dein Onkel Robbie hat dir das Leben gerettet.« Jetzt nahm meine Mutter das Baby in die Arme. Sie ließ ihn auf ihren Knien auf und ab tanzen, bis er vor lauter Lachen in die Hände klatschte. Ich widerstand dem Drang, den »giftigen« Aschenbecher aus seiner Reichweite zu entfernen. Es war besser, die beiden eine Weile sich selbst zu überlassen. Das Kind war Balsam auf die Wunden meiner Mutter.
    Leigh stand in ihrer makellos weißen Küche und erledigte den Abwasch, im Hintergrund dröhnte ein lokaler Sender aus dem Radio. Ihre Spülhandschuhe wirbelten im Spülbecken wie kleine pinkfarbene Robben im Laugenmeer.
    »Alles in Ordnung?«
    »Na ja, es wird langsam wieder gut.« Ich nahm mir einen Prinzenrollenkeks vom Teetablett.
    Leigh strich sich mit ihrem von Spüllauge nassen Arm das Haar zurück. »Es muss schon ein unglaubliches Gefühl sein, dass Louis wieder da ist.«
    »Ja, das ist es. Ich kneife mich immer noch Tag

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