Morgen früh, wenn Gott will
eben.«
»Nun, Sie hatten ja auch genug Anlass zum Weinen. Und ich würde sagen, dass Sie ganz schön tapfer sind.«
»In meiner Bestform haben Sie mich ja nicht gerade erlebt. Es tut mir leid, wenn ich hin und wieder ein wenig … pampig war«, sagte ich und rieb meinen nackten Fuß am Fußabstreifer. Ich musste dringend meine Zehennägel lackieren.
»Hin und wieder?«
Schnell blickte ich auf. Er zog mich auf. Irgendwie.
»Ich wünschte …« Bevor ich weitersprach, warf ich einen Blick auf die Tür zum Wohnzimmer. Sie war fest verschlossen.
»Was wünschten Sie?«, fragte er leise.
»Ich wünschte nur …«, flüsterte ich. »Na, das wissen Sie ja.« Mein Gesicht brannte.
»Ja, Jess«, sagte er, und sein Daumen glitt wieder zärtlich über meine Wange. »Ich weiß es. Ich weiß es wirklich.«
Dann öffnete er die Haustür und ging den Weg hinunter. Dabei pfiff er leise vor sich hin, eine Oper, wie es schien, aber etwas Lustigeres als die verdammte Tosca. Als er am Gartentor ankam, drehte er sich um. Und plötzlich war er weg. Und ich war allein mit Mickey und Louis in Agnes’ altem Haus.
Wie ein Eichhörnchen, das Nüsse sammelt, nahm ich den Zettel mit hinauf in Louis’ Zimmer. Dort setzte ich mich auf das kleine Sofa und las, während er schlief. Scheinbar hatte der Kugelschreiber Robbie mittendrin im Stich gelassen, denn der letzte Teil war in Bleistift geschrieben und kaum noch lesbar. Ich hielt den Zettel über Louis’ Nachtlicht, um ihn besser entziffern zu können. Die Stimme meines Bruders hallte in diesen hingekritzelten Worten wider. Die Interpunktion war noch nie seine Stärke gewesen. Ich fühlte ihn förmlich neben mir, als ich las.
Jessie,
ich weiß eigentlich nicht recht, was ich schreiben soll. Du kennst mich ja. Mit Worten stehe ich seit jeher auf Kriegsfuß. Ich möchte dir nur sagen, wie leid mir alles tut. Was für ein Schlamassel. Du wirst mir vielleicht nicht glauben, doch ich schwöre dir, dass ich nicht wusste, dass Maxine in all das verwickelt war. Als ich mit ihr hierherkam, dachte ich, sie wolle nur einfach von ihrem Freund weg, von diesem verdammten London. Du hast ja wahrscheinlich gemerkt, dass ich ein wenig Schulden habe – auch die Sache mit dem General tut mir leid. Jedenfalls schien es, als hätten wir einiges gemeinsam, Maxine und ich. Ich wusste nicht, dass Louis hier war – bis Maxine vor ein paar Stunden mit ihm hier aufkreuzte. Ich war zutiefst schockiert. Sobald ich konnte, rief ich dich an. Ich habe es ein paar Mal versucht – auch das schwöre ich. Ich habe den Eindruck, dass Max nicht mehr so recht weiß, was sie tut. Aber vermutlich ist das auch kein Trost für dich. Bestimmt steckt jemand anderer dahinter, aber ich weiß nicht, wer es ist, und sie wird es mir nicht sagen. Ich habe ihr gesagt, dass ich dich angerufen habe. Sie war ganz schön sauer, aber das ist mir egal. Es tut mir leid, Jess. Wirklich.
Jetzt ist sie losgezogen, um Windeln zu kaufen, bevor wir nach Hause fahren. Zu dir. Ich habe dafür gesorgt, dass sie Louis hier bei mir lässt. Sie wollte zuerst nicht, aber ich habe ihr einfach gesagt, sie würde mit diesem Kind nirgendwo hingehen – ohne seinen Onkel. Er ist ja so klug, der Kleine. Und so süß. Er sieht genau aus wie du. Auch ein bisschen wie Papa (der arme Kerl)! Ich glaube, er mag mich auch. Zumindest lächelt er mich an. Obwohl er die ganze Milch über meine Jacke gekotzt hat. Ich werde dir die Rechnung von der Reinigung schicken, haha! Ich wollte ein bisschen Zeit mit ihm verbringen, denn höchstwahrscheinlich muss ich ihn zusammen mit diesem Brief einfach auf deiner Schwelle niederlegen.
Die Sache mit dem Auto tut mir auch leid. Aber ein toller Schlitten, du kleines Luder! Ich wusste immer, dass du mal auf die Füße fallen würdest. Ich wusste es einfach. Und ich freue mich für dich. Du hast es wahrhaft verdient.
Gott, jetzt werde ich allmählich so richtig müde.
Hier fand sich eine kleine Zeichnung – Robbie, schlafend, mit einer Menge »Zzzz« über seinem Kopf. Unter Tränen musste ich lachen. Mein kleiner Bruder hätte in so vielen Dingen gut sein können, wenn er es nur gewollt hätte.
Ich sollte öfter mal ehrlich sein, findest du nicht? Das ist mein neuer Vorsatz. Na gut, für den Moment ist es wohl einfach zu spät. Nur einmal noch, und dann fange ich neu an. Ich schwöre es.
Lieber Himmel, ich wischte mir mit dem Ärmel die Tränen ab.
Es ist seltsam, hier zu sein. Ich glaube, wir waren mit
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