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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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mindestens die Hälfte der Londoner Polizei sucht ihn. Wo möchtest du denn anfangen?«
    Er zuckte mit den Schultern und fuhr sich mit den nikotinfleckigen Fingern durch das fettige Haar. Mir kam vor, als zitterten seine Hände dabei ein bisschen. Auf die Linke hatte er einen Namen tätowiert – Jinny. Zumindest sah es danach aus.
    Er stützte sich auf die Anrichte und warf einen buckligen Schatten in den dämmrigen Flur.
    »Überall, wo es nötig ist. Lieber Himmel, Jessie, ich gehöre zur Familie. In Zeiten wie diesen müssen wir zusammenhalten.«
    Shirl lachte leise. »Der ist gut. Weil du ja immer zu Jess gehalten hast, nicht wahr?«
    Robbies Handy klingelte. Er sah auf die Nummer und verzog das Gesicht, dann steckte er das Telefon wieder in die Tasche.
    »Willst du nicht abnehmen?«
    »Nein.«
    Das Klingeln riss ab. Dann fing es wieder von vorne an.
    »Da ist jemand ganz schön hartnäckig«, sagte ich. »Vielleicht wirst du ja gebraucht?«
    Er nahm das Telefon und ging ran. »Was?«, knurrte er. Dann schoss er nach draußen, das Telefon zwischen sein mehrfach gepierctes Ohr und seine Lederjacke geklemmt. Dabei drehte er sich noch eine Kippe. »Ja, ja, ist ja in Ordnung. Ich bin da«, hörte ich ihn sagen. Ich fragte mich, wer wohl wusste, dass er hier war.
    Deb hatte sich diskret verzogen. Wieder ging die Türklingel. Stimmen erklangen im Flur, dann kam Leigh herein. Und ich bekam Recht. Sie fiel wirklich aus allen Wolken.
    Später, als Robbie weg war – von Leighs unbändigem Zorn zum Schatten seiner selbst degradiert, hatte er zuvor noch eine Mobilfunknummer hinterlassen, die sich meiner Ansicht nach bald wieder als falsch entpuppen würde, und mich kurz in den Arm genommen, was mir trotz meiner gemischten Gefühle eine Sekunde lang unglaublich guttat –, rief das Krankenhaus an. Sie hatten herausgefunden, dass ich mich davongemacht hatte, ohne den Psychotherapeuten aufzusuchen, und baten mich, morgen doch »auf einen kurzen Plausch« vorbeizukommen. Dann kam Deb herein und erzählte mir, dass die Auswertung der Anrufe nach der Fernsehsendung ein paar Spuren ergeben hatte, was bei mir einen Hauch von Optimismus auslöste. Wirklich! Sie meinte, ich solle doch morgen nochmals vor die Kameras treten, und dann wäre Louis sicher bald wieder zu Hause.
    Ich wusste, dass ich eigentlich Mickey hätte besuchen sollen, doch allein der Gedanke ließ mir die Haare zu Berge stehen. Als ich später mit der diensthabenden Schwester telefonierte, sagte diese, er schlafe, und so machte ich es mir mit Shirl und einer Weinflasche gemütlich, doch vom Alkohol wurde mir übel. Ich schaltete den Computer ein und begann, im Internet zu surfen. Ich suchte nach beruhigenden Nachrichten. Zum Beispiel, dass geraubte Kinder häufig erst nach langer Zeit gesund und wohlbehalten zu ihren Eltern zurückkamen. Doch die wenigen Statistiken, die ich auftat, waren eher von der beunruhigenden Sorte. Achtzig Prozent der Kinder wurden innerhalb von drei Tagen wiedergefunden, wenn nicht dann … Immer und immer wieder las ich, welche Rolle die ersten achtundvierzig Stunden bei den Nachforschungen spielten, eine ungeheuer wichtige Rolle. Wieder ein Schlag ins Gesicht. Die Angst verstärkte ihren Klammergriff um meine Brust so sehr, dass ich den Computer ausschaltete.
    Ich war vollkommen erschöpft, doch ich wusste, dass ich nicht würde schlafen können. Also setzte ich mich zu Shirl und sah mit ihr eine Seifenoper im Fernsehen an. Allerdings konnte ich mich auch darauf nicht konzentrieren. In Großbritannien wurden jedes Jahr 100000 Kinder vermisst gemeldet. Diese Zahl ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Wo blieben all die armen, vermissten Kinder nur ab? Waren sie in Schränken versteckt, in Kellern, in angemieteten Einzimmer-Appartements? Lebten sie unter den Brücken in Waterloo und Vauxhall, rund um die Kathedrale von Liverpool und um den Rag Market in Birmingham? Mir fiel das Bild des österreichischen Mädchens ein, das ihre Kindheit im Keller eines Fremden verbracht hatte. Oder die amerikanischen Jungs, die – nicht weit von ihrer richtigen Familie entfernt – in eine neue Familie aufgenommen wurden. Diese armen Kinder liebten ihre Entführer fast. Ohne richtig hinzusehen schaltete ich die einzelnen Kanäle durch und suchte nach etwas, um mich abzulenken.
    »Soll ich nachsehen, ob ich eine der Reiseshows finde, die du so magst?«, fragte Shirl und nahm mir die Fernbedienung aus der Hand.
    »Nein, Shirl, nicht nötig. Gehe ich dir auf die

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