Morgen früh, wenn Gott will
weitere Pressekonferenz in Lewisham geben.«
Deb schob mich durch die Menge ins Haus und schlug die Tür hinter uns zu. Das Stimmengewirr draußen blieb uns noch eine Weile erhalten. Deb sah besorgt aus.
»Geht es Ihnen gut?«
Ich ließ mich gegen die geschlossene Vordertür sinken und nickte.
»Es tut mir leid, Jess. Dieser Mob hat keinerlei Respekt vor dem Privatleben anderer Menschen. Am besten gehen wir nach hinten, bis sie weg sind.«
»Sie tun doch auch nur ihre Arbeit, nehme ich mal an.« Doch es fiel mir schwer, an den Augenblick zu denken, in dem ich gedacht hatte, dass mein Sohn zurück sei, die unglaubliche Freude, die in mir aufgewallt war. Ich vergrub das Gesicht in den Händen.
»Ich setze Teewasser auf.«
»Aber es geht mir gut, wirklich.«
Shirl meinte, sie würde mir ein Bad einlassen. Ich ging hinauf und zog mich um. Als ich den Schrank im Schlafzimmer öffnete, um meinen Morgenmantel herauszuholen, fiel mir ein Bündel Papiere entgegen, das ich in einem Ordner im Schuhfach des Schrankes verwahrt hatte. Der Ordner mit den Sachen, die ich nicht verlieren wollte – meinen Ausweis, meine Heiratsurkunde, meine sauer erarbeiteten Prüfungszeugnisse. Skizzen von Louis und vom schlafenden Mickey. Diese hatte ich in unseren Ferien auf Mauritius gemacht, die einzigen Ferien, die wir vor dem Baby miteinander verbracht hatten. Ich hatte sie ihm nie gezeigt, weil sie nicht besonders gut waren. Eines der wenigen Fotos, die ich von meinem Vater besaß: ein lachender junger Mann auf dem Rücken eines Pferdes. Aus den Tagen, als er noch hoffte, als Profi Rennen zu reiten. Dieses Foto fiel nun zu Boden.
Angst stieg mir den Rücken hinauf und saß schwer auf meinen Schultern. Mit kleinen spitzen Widerhaken setzte sie sich in meiner Haut fest. Niemand hatte sich je an diesem Schrank zu schaffen gemacht, nicht einmal die heilige Johanna der Putzeimer. Aber irgendjemand hatte hier herumgewühlt. Hinter mir riss jemand die Schlafzimmertür auf und ließ sie gegen die Wand knallen. Ich fuhr zusammen.
»Tut mir leid, Süße«, sagte Shirl. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe dir nur etwas zu trinken gebracht.«
»Irgendjemand hat sich an meinem Schrank zu schaffen gemacht, Shirl«, sagte ich und hob das Foto auf.
»Wer ist das? Roger? Lieber Himmel, ist er nicht jung und hübsch, wie er da auf seinem Pferd sitzt, ein richtiger Gutsherr?«
»Wohl kaum«, antwortete ich zerstreut. »Schließlich war er nur der Stallbursche. Bevor er zu groß wurde, um Rennen zu reiten.« Ich drehte das Foto in meinen Händen hin und her. »Shirl, ich meine es ernst. Ich bin sicher, dass jemand hier dran war. Ich lasse diesen Ordner immer genau …«
»Hör mal, Liebes«, sagte sie und nahm meine Hand, während sie mir direkt in die Augen sah. »Du steckst mitten im übelsten Albtraum, den man sich vorstellen kann. Du darfst ruhig nervös sein. Es ist normal, dass deine Fantasie dir im Moment Streiche spielt. Du musst nur versuchen, dich ein klein bisschen zu beruhigen. Komm, ich habe dir ein schönes Bad eingelassen.«
Ich stopfte den Ordner in den Schrank zurück und folgte ihr ins Badezimmer. Dabei lauschte ich ihrem Geplauder, das mich aufmuntern sollte. Vielleicht hatte Jean etwas in meinen Kleiderschrank gehängt. Hatte sie nicht erst kürzlich aufgeräumt? Widerstrebend gestand ich mir ein, dass es genau so war. Doch wollte mir trotz der erbarmungslosen Hitze und trotz des heißen Bades nicht richtig warm werden.
Als wir das St. Thomas-Krankenhaus verließen, hatte Deb versucht, mich am Zeitungsstand vorbeizulotsen, aber ich hatte mich schon erspäht. Ich war nahezu überall auf der Titelseite: mit großen Augen beim Presseappell, wie ein Lämmchen, das seine Herde verloren hatte. Neben mir druckten fast alle Blätter dasselbe Bild von Louis, Mickey und mir ab, wie wir sorglos in die Kamera lächelten.
Und so gingen mir trotz Shirls fröhlichem Geschnatter alle Bilder verschwundener Kinder durch den Kopf, die mir je aufgefallen waren. Ich ließ mich immer wieder unter Wasser sinken, aber die Gesichter folgten mir. Ihr strahlendes und unschuldiges Lächeln, als sie von ihrer Zukunft noch nichts wussten. Ihr tragisches Schicksal, das sie nicht älter werden ließ als auf dem Foto. Sie steckten in der Zeit fest wie im ewigen Eis. Louis hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, Zähnchen für ein solches Lächeln zu entwickeln.
Gerade als ich anfing, gegen den Ansturm verzweifelter Gedanken anzukämpfen, die mich
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