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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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bis ins Mark kalt werden ließen, läutete es an der Tür. Nur dass ich dieses Mal nicht hoffnungsvoll aufsprang. Ich erhob mich langsam und schleppte mich die Treppe hinunter, um eine positive Nachricht betend. Als ich in die Küche kam, saß er da, schon häuslich eingerichtet, als habe er die letzten Jahre immer dort gesessen, ein Bier in der einen Hand, die Kippe mit dem langen Aschenstummel in der anderen. Es war überhaupt nichts, was mit Louis zu tun hatte. Es war Robbie.

Kapitel 11
     
    Als wir noch klein waren, war mein Bruder Robbie sozusagen mein Baby. Ich beschützte ihn, so gut ich konnte, wenn es auch am Ende nicht viel genützt hat. Als ich endlich von zu Hause wegging, so weit, wie mein Mut es zuließ, war er bereits am Untergehen. Bei ihm schlug ein Charakterzug durch, den ich so weit wie möglich unter Verschluss halten wollte.
    Wir waren uns so ähnlich, Robbie und ich. Wir hatten eine Seite unseres Vaters geerbt, welche die glückliche Leigh einfach übersprungen hatte. Unsere blonde, blauäugige Leigh ähnelte unserer Mutter; Robbie und ich, dunkle, zerzauste, kleine Teufel, waren sommersprossige Klone unseres geliebten Vaters. Wir rollten über- und untereinander, prügelten uns und lachten; wir lernten gemeinsam Rad fahren, eine Runde um die andere, und mischten zu zweit den Spielplatz auf. Wir klauten in den Kiosken Pfefferminzbonbons und Lutscher und brauchten niemand außer uns selbst. Als die arme Leigh anfing, mit Jungs auszugehen, zogen wir sie gnadenlos auf. »Uh, ah, du verlierst den BH, irgendwo in der Minibar«, sangen wir lauthals, als wir sie eines Tages erwischt hatten, wie sie in besagter Bar mit Gary geknutscht hatte. Und wir kicherten entzückt, wenn Leigh die Badezimmertür zuschlug, um wenigstens ein bisschen Raum für sich selbst zu haben. Robbie und ich. Wo der eine hinging, folgte der andere unweigerlich nach. Wir waren die Unzertrennlichen – belastet nur durch die Eskapaden unseres Vaters.
    Als wir zu Teenagern heranwuchsen, begann Robbie, sich mit den falschen Leuten herumzutreiben. Mit ziemlich falschen Leuten. Er war der Liebling meiner Mutter, und mein Vater war nun endgültig weg. Mama hielt Robbie nie von irgendetwas ab. Sie machte ihm nie Vorwürfe und bestrafte ihn nie für seine immer wilderen Eskapaden, bis er schließlich völlig außer Kontrolle geriet. Obwohl ich mir Mühe gab – damals war ich zwanzig und peitschte mich gerade durch die Abendschule –, verloren wir weitgehend den Kontakt zueinander. Jede Nummer, die Robbie mir gab, war längst gesperrt, wenn ich endlich anrief, jede frühere Freundin war von ihm enttäuscht. Sein Jugendtraum, als Drummer Erfolg zu haben, endete auf den Korridoren des Sozialamts. Gelegentlich arbeitete er als Türsteher in Soho. Als ich wieder mal in seinem Stammclub vorbei sah, hörte ich, dass er abgehauen war. Einfach so. Sein Zeug zusammengepackt und verschwunden, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Keine Adresse! Er war also auf der Flucht; er wollte nicht gefunden werden.
    Die ganze Sache hat mich ziemlich getroffen, wenn ich auch nicht wirklich überrascht war. Ich hatte ohnehin die Nase voll davon, ihn ständig zu decken und vor meiner Mutter zu entschuldigen. Er wirkte sich ziemlich negativ auf mein Bankkonto und meinen Verstand aus, aber er war immer noch mein kleiner Bruder, und ich liebte ihn mit einer Leidenschaft, die ich für niemanden sonst empfand. Nicht einmal für meinen Vater. Vor einigen Jahren erreichte mich eine Jux-Postkarte aus Goa. Ich musste lachen, als ich mir Robbie mit Bart und Perlenohrringen vorstellte, als gealterten Hippie, der am Strand tanzte. Wenigstens war er am Leben. Dann nichts mehr – bis jetzt.
    »Hi, Sis. Schön wie immer«, sagte er lässig und zog an seiner Selbstgedrehten, sodass die Asche auf die Terracottafliesen staubte. Er stand auf, um mich zu umarmen. »Du hast dich prima herausgemacht. Gratuliere.«
    Ich ließ mich in seine Umarmung fallen und genoss sie eine lange und stille Minute lang. Dann stieß ich ihn weg, obwohl der weitaus stärkere Teil in mir weiter im Arm gehalten werden wollte.
    »Sis?«, hakte ich ungläubig nach. »Du bist hier nicht im Eastend, weißt du. Das hier ist nicht das Fernsehen, Robbie.« Ich ging zum Kühlschrank, um uns beiden etwas zu trinken zu holen und natürlich um Zeit zu gewinnen. Mein Herz schlug sehr schnell. Mein Herz schlug wie verrückt. Ich war schockiert, verwirrt, überglücklich natürlich, dachte ich – aber vor allem war

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