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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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Station zu gelangen. Die Babys lagen sicher hinter verschlossenen Türen. Doch dann kam eine Ärztin durch die Tür zur Abteilung für Frühgeburten. Offensichtlich hatte es dort ein Problem gegeben. Sie achtete nicht auf mich, also schlüpfte ich einfach durch die Tür. Der Geruch nach Desinfektionsmittel würgte mich, während ich vor dem Glasfenster stand. Wie ein kleines Kind vor dem Schaufenster eines Süßigkeitenladens drückte ich meine Nase an diesem Fenster platt. Da lagen all die winzigen Körper in ihren Kunststoffbettchen. Ich starrte auf die vielen Kabel, und wieder zog es mir das Herz zusammen, als ich daran dachte, was ich verloren hatte oder wie dünn der Lebensfaden war, der diese neugeborenen Geschöpfe hielt. An die unglaubliche Verwundbarkeit, die mir bewusst geworden war, als Louis gleich nach der Geburt erst einmal vierundzwanzig Stunden lang in den Inkubator musste. An die Abhängigkeit eines Babys von seiner Umwelt, die mich so betroffen gemacht hatte. Daran, dass sie, schon was ihren ersten Atemzug anging, jemand anderen brauchten, jemanden, der ihnen zu essen und zu trinken gab und sie versorgte. Ich fragte mich, wie ich wohl in den Raum gelangen würde, in dem die gesunden Babys lagen, die all diese medizinische Fürsorge nicht nötig hatten.
    Eine Frau trat hinter mich.
    »Sie sind so winzig, nicht wahr? So absolut hilflos«, sagte ich wie zu mir selbst.
    »Da würden Sie aber staunen. Das sind Kämpfernaturen, wirklich zähe kleine Wesen.« Doch ich vernahm die Verzweiflung in ihrer Stimme. Ich sah sie an. Um ihre Augen lagen die roten Ringe der vollkommenen Erschöpfung. Sie war bleich und dünn. Trotz der Hitze trug sie eine lange Strickweste. In ihren knotigen Händen zerknüllte sie ein Taschentuch. »Da drüben ist mein John-John.« Sie deutete auf ein winziges Kind, das eher einem neugeborenen Kätzchen ähnelte und im Inkubator in der Ecke lag, über sich ein großes, blaues Licht. Ein flauschiger Teddybär schien ihn im Schlaf zu beobachten.
    »Geht es ihm gut?«
    »Wir …«, sie schluckte. »Wir wissen es noch nicht. Wir beten nur immer, dass er dranbleibt in diesem Kasten. Er war so früh dran. Nur sechsundzwanzig Wochen. Aber, wie ich sagte …«, sie versuchte ein herzzerreißendes Lächeln, »er ist eine Kämpfernatur.« An diese Hoffnung klammerte sie sich so sehr, dass ich es spüren konnte.
    Untröstlich. Das war das Wort, das mir einfiel. Ich spürte ihren Blick auf meinem Gesicht. Sie wäre untröstlich, wenn ihm etwas zustoßen würde. Das war offensichtlich. Wenn ihr zum Beispiel jemand das Kind wegnehmen würde. Ein Gott … oder eine Verrückte. Eine Verrückte – wie ich zum Beispiel.
    »Ist Ihr Baby auch hier?«, fragte sie freundlicherweise. Ich starrte sie eine Sekunde lang ausdruckslos an.
    »Leider nicht«, flüsterte ich schließlich. »Ich wünsche mir wirklich, ich wüsste, er wäre in so guten Händen.«
    Sie hielt mir die Hand hin – aber dann kam eine Krankenschwester über den Gang auf mich zu, und ich wusste, dass ich jetzt gehen musste. Einen Augenblick lang ergriff ich die Hand jener Frau.
    »Viel Glück«, flüsterte ich. »Ich werde an Sie denken«, und schon war ich weg, bevor ich etwas wirklich Dummes tun konnte. Bevor … doch tief in mir drin wusste ich, dass ich das niemals tun würde – nicht jetzt, wo ich die Verzweiflung in den Augen der Frau gesehen hatte. Wie konnte ich auch nur einen Gedanken daran verschwenden, einer anderen Frau ihr Kind zu nehmen?
    Also ging ich am Ende in Mickeys Krankenzimmer zurück und rollte mich in dem Stuhl mit dem kratzigen, braunen Stoffbezug zusammen, der mich glücklicherweise an die Bibliothekssessel meiner Schulzeit erinnerte. Dort schlief ich letztendlich ein, denn ich war wirklich müder als je zuvor.
    Die Sonne war wieder aufgegangen, was bedeutete, dass Louis mittlerweile seit sechs Tagen vermisst wurde. Als ich an diesem Morgen steif und verkrampft in meinem Stuhl aufwachte, sagte man mir, dass es Mickey gut gehe und er kein Blutgerinnsel im Gehirn habe, wie man befürchtet hatte. Da man allerdings nicht wusste, weshalb er plötzlich Krämpfe bekommen hatte, hatte man ihn ruhiggestellt. Also saß ich hilflos neben ihm und beobachtete ihn im Schlaf. Ich dachte über die irrealen Erlebnisse der letzten Nacht nach, als ich tatsächlich überlegte, ob ich ein fremdes Kind mitnehmen sollte, um mich für den Verlust des eigenen zu entschädigen. Wie abgrundtief musste die Verzweiflung der Person sein,

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