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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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bekam eine Art Schüttelfrost. Dann kam Schwester Kwame, und ich erschrak. Was hatte ich nur angestellt? Ich hielt seine Hand, als könne ich ihn so am Leben halten. Seine Augäpfel begannen unter den geschlossenen Lidern hin und her zu rollen, dann war er wieder ohnmächtig. Verzweifelt sagte ich: »Er kommt doch wieder in Ordnung, oder? Er wird doch wieder? Habe ich ihn etwa umgebracht?« Doch Schwester Kwame presste nur ihre Kiefer aufeinander und ignorierte mich.
    In dieser Nacht brach sich endlich das Gewitter Bahn, ich aber war dem Zusammenbruch nahe. Ich saß an Mickeys Bett und hielt seine Hand, während jemand den Arzt mit den kleinen Ohren holte. Schnell war er da, verknittert und rotäugig, als habe er die Nacht in einem Besenschrank verbracht. Leise sprach er mit Schwester Kwame, eine Szene, wie man sie aus den Krankenhausserien im Fernsehen kennt. Allerdings redeten die beiden realen Protagonisten nicht ganz so schnell und nicht ganz so deutlich. Einige Male hörte ich aber das Wort »Theater« heraus. Mir dämmerte, dass sie Mickey notfallmäßig behandeln mussten. Bald darauf fuhren sie ihn weg und ließen mich zurück, wieder einmal am Boden zerstört. Ich fragte mich, ob ich meinen Mann etwa verletzt hatte, ihm auf die eine oder andere Weise die Lebensenergie geraubt hatte.
    Dann ging ich hinaus, denn einer der beiden hatte mir über die Schulter zugerufen, dass das eine Weile dauern könne. Also setzte ich mich vor den Eingang zum Krankenhaus unter die Neonbuchstaben. Dort ließ ich mich vom fluoreszierenden Licht bestrahlen und zählte die Zigarettenkippen, während vor meinen Augen der Regen niederging.
    Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren und flößte mir verrückte Bilder ein: Mickeys Arzt, wie er im Operationssaal mit seinem Skalpell eine Reihe singender Krankenschwestern dirigierte. Dann fragte ich mich, was sie mit »Theater« gemeint hatten. War das alles nur ein Spiel für sie, eine Fantasiereise? Dann dachte ich: Ich muss immer noch betrunken sein, sonst würde ich mir nicht solchen Unsinn ausdenken. Neben mir saßen einige merkwürdige Gestalten. Eine von ihnen, eine alte Dame mit blutbefleckten Fingern und einer Art Crocodile-Dundee-Lederhut, reichte mir eine in einer braunen Tüte eingewickelte Flasche. Ich wusste nicht, ob ich trinken oder weinen sollte, doch dann bedankte ich mich artig und sagte Nein.
    Dann wurde mir klar, dass Mickey meine Frage nicht wirklich beantwortet hatte, dass ich immer noch nichts über sein Treffen mit Agnes wusste. Aber natürlich war es klar, dass er mich mehr liebte, hatten wir denn nicht eben Sex miteinander gehabt? Gleich darauf hätte ich mich am liebsten geohrfeigt, weil ich noch so naiv war wie eine Achtzehnjährige. Verheiratete Frauen mit Kindern – ob verschwunden oder nicht – sollten es doch eigentlich besser wissen. Als ich merkte, dass ich jetzt gleich zu heulen anfangen würde, ging ich wieder ins Krankenhaus zurück und suchte die Damentoilette auf. Ich wusch mir die Hände und das Gesicht, obwohl ich vom Regen schon triefnass war.
    Das Licht über dem Waschbecken flimmerte und flimmerte, als ich mich im Spiegel betrachtete, eine verlorene Seele mit einem Geistergesicht. Da wurde mir bewusst, dass ich nicht wusste, wo ich hinsollte. Sollte ich hierbleiben und warten, bis Mickey aus dem »Theater« kam? Oder sollte ich besser nach Hause gehen – das eigentlich Agnes’ Zuhause war – und warten, ob jemand etwa Louis zurückbrachte? Ich griff nach dem neuen Handy, das Deb mir gegeben hatte, und überlegte, wen ich anrufen könnte. Doch mir fiel niemand ein. Ich ging den Korridor entlang, an der großen Tafel vorbei, die zeigte, wo jede Station lag. Mein Blick fiel auf das Wort »Entbindungsstation«. Diese lag offensichtlich im dritten Stock. Also marschierte ich schnurstracks in den Lift und drückte dort auf den Knopf, auf dem die »3« prangte. Ich bewegte mich wie eine Marionette, an deren Fäden höhere Mächte zugange waren. Unsichtbare Fäden zogen mich dorthin, wo die Babys lagen.
    Vor dem Kreißsaal stand ein nervöser Vater mit rotem Haar und sprach leise in sein Handy, das er dort eigentlich nicht hätte benutzen dürfen. Währenddessen drückten seine Absätze sich in das abgelaufene Linoleum, wie die Absätze Dutzender anderer Väter es Woche für Woche taten. Ich wusste, dass dieser Teil der Klinik gut abgeschirmt war. Normalerweise waren sämtliche Türen verschlossen, und man musste auf den Summer drücken, um in die

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