Morgen früh, wenn Gott will
day makes. Tatsächlich konnte ein Tag alles verändern.
Eine Weile lag ich da und ließ mir alles durch den Kopf gehen. Ich erinnerte mich an den Traum, den ich in meiner nächtlichen Trunkenheit gehabt hatte – die gesichtslose Agnes. Plötzlich wurde mir klar, wieso sie kein Gesicht hatte. Ich hatte sie nie gesehen. Ich wusste einfach nicht, wie sie aussah. Sie war nur ein Phantom in meinem Kopf. Also stand ich auf und tapste barfuß in Mickeys Arbeitszimmer hinüber. Dort war es kühl und dämmrig. Ich fühlte mich immer noch wie ein Eindringling hier, doch im Moment war mir das egal. Dann durchsuchte ich das Zimmer vom Fußboden bis zur Decke nach Spuren von Agnes. Ich fand die teure Uhr, die ich Mickey zum Geburtstag geschenkt hatte, achtlos in eine Schublade geworfen. Es war einer meiner sinnlosen Versuche, ihn zur Pünktlichkeit zu erziehen.
Als ich gerade entmutigt aufgeben wollte, fand ich einen alten Schnappschuss in der Schreibtischschublade. Er war ein klein bisschen verwackelt. Die Frau, von der ich glaubte, dass es Agnes war, drehte sich von der Kamera weg. Sie stand hinter Mickey und hielt seine Hand. Es war wohl eine Art Party, denn sie schien jemandem zuzulächeln, der nicht auf dem Foto war. Sie war groß und dünn, doch leider war ihr Gesicht kaum zu sehen. Ihre Haare waren blond, strähnig und auf absurde Weise glatt, als hätte man sie gebügelt. An irgendjemanden erinnerte sie mich. Mickey grinste und hob sein Glas in die Kamera. Er hatte etwas Bacchantisches, wie er da mit glänzenden Augen stand. So hatte er neulich abends ausgesehen, bevor er die Krämpfe bekam. Er sah glücklich aus. Ich fragte mich, wieso ich noch nie ein Bild von der Ex-Frau meines Mannes gesehen hatte. War das nicht merkwürdig? Dann setzte ich mich an Mickeys Schreibtisch und rief Pauline an. Freddie ging ans Telefon. Sie hörte sich müde an. Ich entschuldigte mich und sagte, ich hätte sie nicht wecken wollen.
»Was ist los?«, meldete sich Pauline. Auch ihr war die Müdigkeit noch deutlich anzumerken. Angst schwang in ihrer Stimme mit: »Ist etwas mit Louis? Oder mit Mickey?«
»Nein«, sagte ich. »Aber mit mir. Ich möchte Agnes sprechen. Hast du ihre Telefonnummer?«
»Ich weiß nicht genau«, meinte sie und gähnte leise. »Glaubst du, das ist eine gute Idee, Kleines?«
»Sollte ich das nicht selbst entscheiden, Pauline?«, antwortete ich freundlich. »Kannst du diese Nummer für mich auftreiben?«
»Ich sehe, was sich machen lässt«, sagte sie. »Aber ich glaube, sie ist im Ausland.«
»Wo lebt sie denn eigentlich?« Ich stellte mir vor, sie müsse in New York leben, zwischen Wolkenkratzern, die so elegant und nadelförmig waren wie sie selbst.
»Irgendwo zwischen Amerika und Amsterdam, glaube ich. Ich weiß es nicht genau, Kleines. Eigentlich habe ich keinen Kontakt zu ihr, das weißt du doch, oder?«
Heute wollte ich Pauline glauben.
»Aber die Polizei will auch mit ihr sprechen«, schickte sie hinterher. Ich legte auf, doch dann fiel mir noch etwas ein, und so rief ich Pauline nochmals an. Sie versuchte hörbar, ihren Ärger zu verbergen, Freddie aber maulte im Hintergrund.
»Pauline«, sagte ich. »Es tut mir leid. Ich wollte das schon vorher fragen. Warum trug Mickey seinen Pass bei sich, als wir … als Louis verschwand?«
»Ach, hatte er ihn denn bei sich?«, fragte sie.
»Ja.«
Sie überlegte kurz.
»Das war der Tag, an dem er von dem Foto-Shooting zu Romantische Räume zurückkam, nicht wahr? Da hat er immer seinen Pass dabei, egal, ob er in Großbritannien unterwegs ist oder im Ausland. Du weißt, wie analfixiert er ist, Kleines. Vermutlich wollte er ein Auto mieten.«
Wieder legte ich auf, dieses Mal voller Erleichterung. Dann wanderte ich in meine dämmrige Küche. Ich setzte mich hin und trank eine Tasse schwarzen Kaffee. Ich genoss es, allein zu sein und das Haus wenigstens kurz für mich zu haben. Ich versuchte, an alltägliche Dinge zu denken, zum Beispiel, wie es war, mit meinem Sohn aufzuwachen, ihm zuzusehen, wie er unter seinem Baby-Trapez lag oder in seinem Schaukelstuhl vor und zurückwippte. Wie er an seiner Faust sog und mit den knubbligen Beinchen strampelte. Die Babyschaukel stand jetzt verlassen in der Ecke. Ich drehte mich weg. Irgendwie hatte ich das Gefühl, endlich etwas unternehmen zu müssen. Es war noch zu früh, Justin, den Webdesigner, anzurufen, der heute Louis’ Webseite auf den neuesten Stand bringen wollte, am Ende aber tat ich es doch. Justin war sehr
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