Morgen früh, wenn Gott will
Gesicht sehen.
Schließlich begann ich wegzudriften. Ich sah mich selbst im Bett liegen, zusammen mit Mickey. Mickey las Zeitung oder den New Yorker, ich ein Kunstbuch, das bei ihm nur ein Stirnrunzeln hervorrufen würde. Dann sah ich mich an dem Morgen, an dem Louis zur Welt kam. Ich erwachte früh, weil die Wehen eingesetzt hatten. Ich stöhnte teils aus Schreck, teils aus Schmerz. Aus Angst vor dem, was passieren würde, viel zu früh passieren würde. Und gleichzeitig freute ich mich auf das Baby. Im nächsten Augenblick sah ich den drei Monate alten Louis zwischen uns liegen.
Ich war glücklicher denn je zuvor und hatte immer noch Angst, mir das einzugestehen, damit nur ja niemand kommen und mir alles wieder wegnehmen könne. Es heißt ja, dass man sein Glück erst zu schätzen wisse, wenn man es verloren habe. Und ich war so ungeheuer glücklich, dass ich betete, dass es mir dieses Mal erhalten bliebe …
Und jetzt fiel und fiel ich …
Erschrocken wachte ich wieder auf. Obwohl die Nacht warm war, kam es mir kalt vor. Und ich hatte das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam stand ich auf und schlich zum Fenster hinüber. Ich spähte hinter dem Vorhang hervor und ließ den Blick über die Straße wandern, über die Heide. Nichts. Niemand stand da unten und überwachte mich. Nur ein untersetzter Mann mit einer Kappe und einem fetten, kleinen Hund, der gerade an den Briefkasten pinkelte. Die Baumschösslinge tanzten im Wind hin und her, den Nachwehen des Gewitters. Trotz meiner Ängste und der Tatsache, dass es vermutlich bald wieder regnen würde, ließ ich die Fenster weit offen stehen und zog die Vorhänge zurück. Tief in mir drin wusste ich, dass Louis nicht weit weg war. Wenn ich alles offen ließ, würde ich ja vielleicht hören, wenn er weinte.
Kapitel 17
Mitten in der Nacht erwachte ich und blieb unruhig dösend liegen. Es war sehr dunkel im Zimmer, doch ich war mir sicher, dass ich Zigarettenrauch roch. Als ich den Kopf vom Kissen hob, schien mir, als hörte ich eine Stimme. Die Vorhänge bewegten sich sacht am offenen Fenster. Einen Augenblick lang erstarrte ich vor Angst, dann zwang ich mich aus dem Bett. Ich versuchte, keine Angst zu haben. Shirl war schließlich gleich nebenan. Zumindest hoffte ich das. Vollkommen erschöpft stolperte ich zur Tür und stützte mich auf der Kommode ab.
Ich trat auf den Treppenabsatz hinaus. Shirls Tür war geschlossen. War sie überhaupt zurückgekommen? Ich spitzte die Ohren und lauschte. Im Moment war alles still. Vor dem Haus stieß ein Fuchs seine wilden Schreie aus. Ich spähte über das Treppengeländer. Alles dunkel. Dann ein Schrei. Jemand riss die Küchentür auf. In dem hellen Lichtkeil, der in den Flur fiel, zeichnete sich ein dunkler, langer Schatten ab.
»Wer ist da?«, flüsterte ich heiser von meinem Aussichtspunkt aus. Der Lärm verebbte. Stille. Dann schielte Maxine hinter der Küchentür hervor und sah zu mir herauf. Erleichtert entspannte sich mein Magen. Sie hielt das Telefon in der Hand.
»Entschuldigen Sie, Jessica«, sagte sie. »Ich wollte Sie nicht wecken.«
»Nein«, sagte ich mit gepresster Stimme. »Das hatte ich auch nicht angenommen.« Das Weiße in ihren Augen blitzte zu mir herauf.
»Ich habe nur mit meinem Vater gesprochen.«
»Gehen Sie wieder ins Bett«, sagte ich. Ich jedenfalls tat genau das und verfiel in unruhigen Schlaf. Endlich konnte ich mich aus meiner Wirklichkeit davonmachen. Schlaf war überhaupt das Beste. Der Schlaf war Sicherheit.
Am nächsten Morgen wurde ich von den Sonnenstrahlen, die in mein Zimmer fielen, zeitig geweckt. Der Wind hatte den Himmel leer gefegt, nur wenige Wolkenfetzen segelten vor der aufgehenden Sonne her. Heute waren es sieben Tage, dass ich meinen Sohn zuletzt gesehen hatte. Eine ganze Woche also. Der Milchfluss war mir versiegt. Jede Sekunde, die ich wach war, verbrachte ich in purer Panik. Ich hatte das Gefühl, an einem Abgrund dahinzuwandeln, der so tief war, dass ich nie wieder herauskäme, falls ich hineinstürzen sollte. In Wahrheit aber wollte ich gar nicht mehr heraus. In dieser einen Woche hatte ich so viel Gewicht verloren, dass meine Kleider an mir herabhingen, als gehörten sie jemand anderem. Was würde ich jetzt darum geben, immer noch dick zu sein, immer noch vollkommen erschöpft von den Ansprüchen, die mein Sohn stellte. Wie selig wäre ich, wenn ich nur bei ihm sein könnte. In meinem Kopf hämmerte immer wieder der alte Refrain: What a difference a
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