Morgen früh, wenn Gott will
sehr leid. Ich habe mich hinreißen lassen.«
»Nicht zum ersten Mal, oder?«
»Ich habe noch nie jemanden geschlagen«, widersprach ich energisch. Ich fühlte mich schon wieder ein klein bisschen betrunken. Das Baby am Nebentisch fing zu weinen an, am liebsten hätte ich es auf den Arm genommen. Maxine starrte mich an, dann hob sie mit einem Ruck den Schorf von der Wunde ab. Ein unangenehmes Gefühl kroch mir die Wirbelsäule hinauf. »Was denn?«, fragte ich. »Sie meinen doch nicht etwa die Szene, als Louis hinunterfiel?«
Als Maxine in London ankam, hatte ich wirklich eine schlimme Zeit. Ich musste mich an Louis erst gewöhnen. Daher wollte ich keine Fremde im Haus haben, in Mickeys Haus. Er aber bestand darauf, dass ich Hilfe nötig hatte. Vielleicht eine nordische Nanny, die alles im Griff hatte. Was ich am allerwenigsten brauchen konnte, war ein sexbesessener französischer Teenager. Als Maxine die erste Woche bei uns war, schlief ich auf dem Sofa ein – mit Louis im Arm. Er rollte auf den Boden hinunter und hatte einen blauen Fleck am Arm. Die schlaflosen Nächte hatten mich mürbe gemacht. Ich lief nur noch auf Reserve. Die geringsten Kleinigkeiten brachten mich auf. Dass ich Louis hatte fallen lassen, war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich hatte so enorme Schuldgefühle. Die Angst, es könne vielleicht etwas noch viel Schlimmeres passieren, erschütterte meine ohnehin nicht sehr stabile Welt. Im Grunde war es Ironie des Schicksals: Louis’ Sturz erwies sich als etwas Positives, denn er zwang mich dazu, mir endlich einzugestehen, wie groß die Liebe war, die ich für dieses Kind empfand, und wie weit ich gehen würde, um es zu beschützen. Ich musste mich zusammenreißen, bevor es zu spät war. Und das tat ich dann auch. Trotz alldem spürte ich Maxines Misstrauen, obwohl sie nie etwas Derartiges gesagt hatte. Auch Freddie hatte mich an jenem Tag entsetzt angesehen, als sie ins Wohnzimmer kam und mich fand, wie ich mit dem schreienden Baby auf dem Boden saß und selbst heiße Tränen vergoss. Tatsächlich hatte Louis früher aufgehört zu weinen als ich, denn er freute sich über seine neuen Bewunderer. Ich aber entschuldigte mich bei allen. Mein Gesicht brannte vor Scham.
»Ich habe ihn nicht geschlagen, Maxine. Das müssen Sie doch wissen. Ich würde meinem Sohn nie weh tun. Niemals.«
»Gut. Wenn Sie es sagen.«
Ein ungemütliches Schweigen begleitete uns nach Hause.
Den Rest des Nachmittags versuchte ich, Robbie zu erreichen. Ich fuhr wieder ins Krankenhaus, doch Mickey war immer noch nicht wach. Deb richtete es so ein, dass ich Annalisa aufsuchen konnte, die Therapeutin mit dem kupferfarbenen Haar. Ich weinte mich durch die ganze Schachtel Kleenextücher auf ihrem Schreibtisch. Dieses Mal ließ ich mir von ihr die Hand halten.
»Ich versuche ja, stark zu bleiben. Für Louis. Aber es ist wirklich schwer.« Ich konnte nur schniefend sprechen. »Es ist so unglaublich schwer. Ich kann einfach den Gedanken nicht ertragen, dass ihm jemand weh tun will.« Schon bei der Vorstellung hätte ich schreien können. »Und wenn … wenn ihm etwas passiert ist?«
»Sie sollten Ihrer Fantasie in diesem Punkt nicht freien Lauf lassen«, meinte sie und tätschelte meinen Arm. Ich rollte die Hand zur Faust, um meine schrecklichen Gedanken zu verscheuchen.
»Ich kann einfach den Gedanken nicht ertragen, dass ich es hätte verhindern müssen. Dass ich ihn im Stich gelassen habe«, flüsterte ich. »Und etwas anderes macht mir auch noch Angst.«
»Was?« Sie sah mich über den Rand ihrer Brille hinweg an.
»Mein Bruder. Er ist so unzuverlässig. Ich frage mich – was ist, wenn er in all das verwickelt ist?«
Sie runzelte die Augenbrauen. »Wäre das denn überhaupt möglich?«
»Das muss ich eben herausfinden.«
»Finden Sie nicht, dass dies Angelegenheit der Polizei wäre?«
»Ich werde bestimmt eher mit ihm fertig als die Polizei. Er kann ziemlich … wendig sein, wenn man so will. Ich möchte nicht, dass er Mist baut. Das wäre das Allerschlimmste für mich.«
Ich erzählte nicht, dass ich mich insgeheim nach der Stille sehnte, welche die Tabletten brachten. Aber ich würde nicht nachgeben. Nicht noch einmal. Ich würde nicht denselben Weg gehen, den meine Mutter vor mir gegangen war.
Ich war so unschlüssig, was Robbie anging. Wenn ich ihn morgen früh nicht erreichen konnte, musste ich Silver von meinem Verdacht berichten. Ich musste der Wahrheit endlich ins
Weitere Kostenlose Bücher