Morgen ist der Tag nach gestern
wurden diese Augenblicke häufiger. Als sie ihre ersten Schritte tat, hatte er es erlebt. Es waren nur drei Schritte, aber sie kam auf ihn zu und fiel ihm in die Arme, als sei er das rettende Ziel. Damals hatte er es zum ersten Mal gesagt: „Keine Angst! Dir wird nichts passieren, so lange ich lebe.“ Damals hatte er es zum ersten Mal versprochen.
3
Die Hitze liegt seit Wochen wie ein schweres Kissen auf der Stadt. Im flirrenden Tageslicht halten Sekundenzeiger inne, um Kraft zu schöpfen für den nächsten Schritt. Stunden tropfen zäh vom Morgen zum Mittag und vom Mittag zum Abend. Selbst die Nächte bringen keine Abkühlung, nur schwüle Dunkelheit.
Die licht- und wärmeabweisenden Rollos in seinem Büro sind heruntergezogen, die Fenster in der Hoffnung auf einen Luftzug auf Kippe gestellt.
Die Tage verlaufen ruhig, selbst das Verbrechen scheint auf Abkühlung zu warten.
Böhm sitzt seit sechs Uhr am Schreibtisch. Bei erträglichem Wetter wäre er um diese Zeit allein auf dem Flur der Abteilung Kapitalverbrechen, aber seit Tagen kommen auch die anderen Kollegen in den frühen Morgenstunden, um in der heißen Mittagszeit eine Pause einlegen zu können.
Böhm ist seit Anfang des Jahres, nach neun Monaten Sonderurlaub, zurück.
Es ist kurz nach sieben, als Steeg an seine geöffnete Bürotür klopft.
„Morgen, Peter!“
Böhm dreht sich mit dem Stuhl zur Seite und nickt ihm zu.
„Morgen, Achim.“
Achim Steeg trägt trotz der Hitze sein Leinenjackett über einem T-Shirt mit Stehkragen. Seine Sommergarderobe, die er, auch wenn es jetzt draußen schneien würde, nicht ändern könnte. Steeg lebt nach festen Regeln und manchmal scheint es Böhm, dass ein Durchbrechen dieser festgefahrenen Strukturen den jungen Mann zutiefst verunsichern würde.
In der linken Hand eine Wasserflasche, in der rechten ein angebissenes Brötchen, lässt er sich mit einem Seufzer auf den Stuhl gegenüber von Böhm fallen.
„Ist das eine Scheißhitze. Gestern bin ich sämtliche Baumärkte und Elektrohandlungen abgefahren, um einen Ventilator zu kaufen. Ausverkauft! Kannst du dir das vorstellen? Es gibt in dieser verdammten Stadt nirgendwo einen Ventilator zu kaufen. Und der Hammer ist, wenn du einen vorbestellen willst, haben die allen Ernstes vier Wochen Lieferzeit. Über die Preise will ich gar nicht erst reden. Die sind doch alle nicht mehr ganz dicht!“
„Wer?“ Joop van Oss schlurft auf weißen Stoffslippern ins Büro.
Steeg mustert ihn von oben bis unten und schüttelt den Kopf.
„Wir hier in Deutschland sagen nicht ‚wer’, wenn wir einen Raum betreten. Wir sagen ‚Guten Morgen’.“
„Morgen! Wer ist nicht ganz dicht?“
Joop geht zur Kaffeemaschine und schenkt sich Kaffee ein. Mehrere gespülte Tassen stehen kopfüber auf einem sorgfältig ausgebreiteten Geschirrtuch.
Joop sieht Steeg erstaunt an.
„Hast du gespült?“
„War ich nicht.“ Achim beißt in sein Brötchen. „Aber du könntest mir auch einen Kaffee einschenken.“
Joop reicht ihm eine Tasse.
„Peter, du auch?“
„Danke, ich hab noch!“
Van Oss zieht sich einen der vier Stühle aus der Fensterecke herüber und setzt sich neben Steeg.
„Habt ihr die Waldbrände in Portugal und Frankreich im Fernsehen gesehen? Das ist noch nicht vorbei. Das haben wir jetzt davon. Die globale Erwärmung wird uns alle treffen. Wir vernichten uns selbst. Bald ist Europa eine Wüste. Die Bilder von den äckern in Brandenburg … habt ihr gesehen …?“
Steeg verdreht die Augen.
„Jooo-hop! Komm wieder runter, ja! Wir können es sowieso nicht ändern. Ob du dich jetzt aufregst oder nicht. Also verschon deine, und vor allem meine Nerven, mit diesem globalen Erwärmungsquatsch.“
„Aber das ist kein Quatsch! Ich sage es euch. In ein paar Jahren werden wir Menschen wegen Wasserdiebstahls hinter Gitter bringen. Wir werden für eine Flasche Wasser mehr bezahlen als für eine Flasche Chateau Neuf du Pape! Die Pole schmelzen …“
„Joop!“ Achim funkelt ihn an. „Nicht schon am frühen Morgen, du hysterischer Holländer!“
Van Oss verschränkt die Arme vor der Brust und schiebt das Kinn vor.
„Okay“, er hebt demonstrativ den Kopf und schaut auf die rote, runde Küchenuhr über der Tür. „Um wie viel Uhr kannst du die Wahrheit vertragen?“
Steeg beißt resigniert in sein Käsebrötchen.
Böhm lächelt vor sich hin. Steeg und van Oss sind wie Hund und Katze, aber sie arbeiten perfekt zusammen. Nach der Mordserie in Merklen war Joop
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