Morgen ist ein neuer Tag
Steuerrad. Der schwere Wagen heulte über den Asphalt. An einer Ecke stand ein Mann in einem Fischgrätanzug und wäre beinahe von ihm in der Kurve mitgerissen worden …
Nur weiter … weiter … Lina ist verunglückt – Mein Gott – ich nehme jede Sühne auf mich, wenn du sie leben läßt …
Als Fritz Bergschulte nach Hause zu den Schwiegereltern zurückkehrte, war von Vlotho aus schon angerufen worden. Weinend traf er Emma Stahl an, während Franz Stahl in der Küche hin und her rannte und Fritz mit einem Hagel von Vorwürfen empfing.
»Du hast sie auf dem Gewissen!« schrie er. »Du hast erst sie umgebracht, und jetzt ist wohl der Heinrich dran! Lernt man in Rußland so gut das Töten? Wärst du doch geblieben, wo du warst! So friedlich lebten wir, bis du auftauchtest! Du bist tot! Begreifst du das denn nicht? Auch wenn du lebst, bist du tot, – für Lina und für Peter und für Heinrich – und für uns!«
Von einem zum anderen blickend, stand Fritz Bergschulte in der Wohnung und schüttelte den Kopf.
»Was … was … ist denn?« stotterte er verwirrt.
»Du fragst noch, was ist?« brüllte der Alte.
»Mörder!« schrie Emma und warf sich auf das Sofa, haltlos weinend.
»Du hast die Lina die Treppe hinuntergestoßen!« ergänzte Franz Stahl. »Soeben rief uns Heinrich an. Man hat sie ins Krankenhaus gebracht.«
»Lina … Die Treppe hinuntergestoßen … Ich?« Fritz Bergschultes Augen wurden starr und groß. Das Entsetzen weitete sie. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren.
»Lina … die Treppe …«, stammelte er noch einmal. Dann riß er den Hut wieder an sich und rannte aus der Wohnung. Auf der Straße sprang er in die Trambahn, fuhr mit ihr schwarz zum Bahnhof und stand an dem Fahrkartenschalter, zerfahren, mit irrem Blick, in der Hand seinen Entlassungsschein aus der Gefangenschaft.
»Ich habe kein Geld«, sagte er zu dem Bahnbeamten. »Ich bin vor vier Tagen erst zurückgekommen. Meine Frau ist in Vlotho … sie ist vorhin verunglückt … ich muß zu ihr …«
»1,32 Mark«, sagte der Beamte und stempelte an der langen Kartenmaschine die Pappkarte.
»Aber ich hab doch kein Geld!« wiederholte Fritz Bergschulte.
»Dann kann ich Ihnen auch keine Karte geben.«
»Meine Frau ist verunglückt. Ich bin Heimkehrer. Ich muß nach Vlotho.«
Der Beamte sah ihn kurz an und wandte sich zu dem dicken Herrn, der hinter Fritz stand. »Sie wünschen?« Und zu Bergschulte gewandt, meinte er grob: »Gehen Sie! Halten Sie den Betrieb hier nicht auf!«
»Einmal zweiter, Bad Oeynhausen«, hörte Fritz noch, dann verließ er wieder den Bahnhof und lief zur Autostraße, die von Minden nach Oeynhausen führt.
Über eine Stunde stand er am Straßenrand und winkte den eleganten Wagen zu, ihn mitzunehmen. Aber die Herren oder Damen am Steuer beachteten ihn nicht, fuhren an ihm vorbei oder drückten auf die Hupe, wenn er sich ihnen auf der Straße entgegenstellen wollte. Einmal konnte ihn nur ein rascher Sprung vor dem Überfahrenwerden retten, denn der Lenker des schnittigen Mercedes erhöhte bei seinem Winken sogar die Geschwindigkeit noch.
»Bestien! Alles Bestien!« schrie Bergschulte und winkte … winkte … »Dafür hat man im Dreck gelegen, dafür hat man in Sibirien ausgehalten, für die Heimat, für die seelenlosen Masken hinter dem Steuer, für die ›Kameraden‹, die einen verraten, kaum, daß man den Rücken kehrte …«
Er spuckte aus und winkte dann weiter … Eine Stunde … eineinhalb Stunden … Endlich hielt ein Lastwagen, und ein Fahrer in Arbeitskleidung beugte sich aus dem Führerhaus.
»Wohin, Kamerad?« fragte er.
Kamerad! Fritz Bergschulte verzog den Mund, als habe er etwas Bitteres geschluckt.
»Nach Vlotho«, sagte er. »Oder bis Oeynhausen. Wie weit du fährst.«
»Schwing dich hinten drauf!« Der Fahrer tippte grüßend an den Schirm seiner Mütze. »Aber laß die Kisten in Ruhe. Ist Sprengladung drin für'n Steinbruch.«
Fritz Bergschulte kletterte auf den Lastwagen und setzte sich auf die Kisten mit dem Sprengstoff. Wie komisch das doch ist im Leben, dachte er. Vor einigen Jahren saß man auch auf Kisten mit Handgranaten im Graben und da hieß es nicht, seid vorsichtig, sondern im Gegenteil, das wäre als Feigheit ausgelegt worden. Die Welt war doch ein Narrenhaus, daran gab's keinen Zweifel.
Der Wagen schaukelte über die Straße, weich nahm er die Kurven, vorsichtig und gut ausgefahren. Denn hinten auf der Pritsche lag der Tod, der vieltausendfache Tod, und er sah gar
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