Morgen ist ein neuer Tag
erteilt: Verachtung, Ausgestoßenwerden, Einsamkeit …
Er schloß die Augen und drückte den Rücken gegen die weiße Wand.
Durch die Tür aus dem Zimmer klangen leise die Stimmen …
Stimmen aus einer Welt, in die er nicht mehr gehörte …
Leise hatte Fritz Bergschulte die Tür zum Krankenzimmer geöffnet. Ein großer, breiter, mit weißem Linon bezogener Schirm schützte das Stahlbett gegen jede Zugluft vom Flur. Auf dem Nachttisch, den man nahe an das Bett geschoben hatte, standen eine Brechschale, eine Schnabeltasse mit Tee und einige Fläschchen mit Medizin. Eine junge Schwesternhelferin saß auf einem Stuhl neben dem Bett und beobachtete die Kranke, die anscheinend sehr unruhig war. Als Fritz Bergschulte eintrat, legte sie die Finger auf die Lippen und nickte zu der Patientin hin, die mit geschlossenen Augen das Zuklappen der Tür vernahm und zusammenzuckte. Dann erhob sich die Schwesternhelferin, ging an Fritz vorbei und flüsterte ihm im Hinausgehen zu: »Höchstens eine Viertelstunde …«
Bergschulte nickte. Langsam trat er an das etwas erhöhte Kopfteil des Bettes heran, setzte sich vorsichtig, als könne er etwas von dieser weißen Pracht zerbrechen, auf die Bettkante und nahm die schlaffe, weißgelbe Hand Linas in die seine mit den harten, aufgesprungenen Fingern. Unbeholfen, scheu streichelte er sie, spielte mit ihren schlanken Fingern, wie er es so oft getan hatte, wenn sie früher nebeneinander auf der Couch gelegen waren und von der Zukunft geträumt hatten, und er sah mit heißem Herzklopfen, wie Lina ruhiger wurde und ein kleines Lächeln über ihr fast lebloses Gesicht huschte.
»Lina«, sagte er leise. »Lina – hörst du mich?«
Sie nickte schwach und legte die rechte Hand auf seine streichelnden Finger.
»Fritz«, flüsterte sie, und man sah, daß ihr das Sprechen große Mühe machte. Die Lippen zuckten dabei, und ein Krampf überflog ihr Gesicht. »Fritz … ich bin gefallen – als du weggingst – die Treppe hinunter …« Ein tiefer Seufzer hob ihre Brust … »Der Arzt sagt, ich werde vielleicht kein Kind mehr haben …«
Das ist die Entscheidung, durchzuckte es Bergschulte. Das war der letzte Trumpf Heinrich Korngolds, der entschwand. Jetzt ist Lina frei, jetzt bindet sie nichts mehr an diesen Lumpen. Jetzt kann das Leben weitergehen, von dort, wo es stehengeblieben war vor zehn Jahren … Lina, Peter und er … ein neues Leben zu dritt, das er mit seinen starken Armen schon meistern würde …
Aber er sagte nichts. Still saß er bei ihr und streichelte ihre blasse Hand. Ab und zu beugte er sich vor, nahm das Glas Wasser, stützte ihren Kopf und gab ihr einen kleinen Schluck zu trinken. Und jedesmal, wenn er ihre Lippen vor sich sah, war er versucht, diese zu küssen, drängte alles in ihm zu ihr hin, und fühlte er, wie seine Hand, die die Schnabeltasse hielt, zu zittern begann. Da biß er die Zähne zusammen und legte Lina in die Kissen zurück, setzte sich wieder an den Bettrand und begann, leise zu erzählen, wie er sich sein neues Leben dachte.
»Ich werde wieder auf dem Bau arbeiten«, sagte er. »Ich habe mich in Minden erkundigt, man sucht wieder Maurer. Als Spätheimkehrer habe ich Aussicht, bald Polier zu werden, und dann werden wir uns wieder ein kleines Häuschen bauen. Das wird zwar etwas dauern, aber wir haben ja auch Zeit, wir sind ja noch jung. Und den Peter, den lassen wir auf der Schule, das schaffe ich schon. Wichtig ist, daß er fleißig lernt.« Er sah Lina fragend an. »Kommt er denn mit auf dem Gymnasium?«
Lina nickte schwach. »Er ist guter Durchschnitt.«
»Na also – Streber mag ich auch nicht. Und mit Heinrich Korngold …« Er sah, wie sich Linas Gesicht rötete, und spürte, wie sich ihre Finger in seiner Hand zusammenkrampften. Da brach er ab und beugte sich etwas vor. »Ja, ich weiß«, sagte er leise und beruhigend. »Ich werde nett zu ihm sein … so nett, wie ich kann. Und wir werden uns schon einig werden … Unter Männern geht das schneller.« Dann stockte er und fuhr sich mit der Hand über die Haare. Plötzlich merkte er, daß er schwitzte, – es war ein kalter Schweiß, klebrig und perlend … Angstschweiß, durchfuhr es ihn … Wirklich Angstschweiß … Ja, ich habe Angst, sie zu fragen … ihr die wichtigste Frage zu stellen, die es jetzt noch zwischen uns gibt … Und keiner ist da, der mir hilft, keiner, der mir einen Finger reicht …
»Lina«, sagte er stockend. »Lina … das alles könnte so werden … so, wie früher,
Weitere Kostenlose Bücher