Morgen ist ein neuer Tag
vergessene und versunkene, stand wieder vor ihm auf – der schöpferische dichterische Geist, der den Suchenden etwas zu sagen hat und aus dem Ideal der erdichteten Gestalten einen Weg weist aus dem Labyrinth der seelischen Klüfte und der Hoffnungslosigkeit des verlorenen Glaubens an das Gute und an die Menschlichkeit.
Die Arbeit an dem großen Bau gefiel ihm, wenn auch für seinen ausgezehrten Körper die Zumutungen groß waren und er am Abend kaum noch zu irgendwelchen Unternehmungen neigte. Nicht nur zu beaufsichtigen galt es für ihn, sondern es mußte auch – und zwar mehr als erwartet – angefaßt werden, wenn die neuen und jungen Lehrlinge, die bei den riesenhaften Zerstörungen der Städte im Baugewerbe eine sichere Zukunft sahen, nach einigen Stunden müde und müder wurden. Dann sprang Fritz Bergschulte ein, schleppte selbst die Ziegel heran, machte ihnen vor, wie man mit weniger Kraft die Speise in den Rückenträgern auf die Gerüste trug, zeigte, wie man guten Beton mischte oder den Baukalk löschte. Oft auch stand er oben auf dem Gerüst, die Kelle in der Hand, und mauerte eine Partie, übernahm die Berechnungen der Fenster und der Zierpfeiler, der Vorsprünge und inneren Abmessungen. Gab es irgendwo eine Stockung, so rief der Bauleiter, ein erfahrener Baumeister und Architekt, nach Fritz Bergschulte, und man konnte sich darauf verlassen, daß die Arbeit bald wieder in Fluß kam.
So war er in den wenigen Tagen, die er erst in Dortmund weilte, schon unentbehrlich geworden, und das von Lob erfüllte Schreiben, das Paul Ermann erhielt, machte auch diesen stolz. Der Fritz, dachte er. Wußte ich doch, der ist der alte geblieben, trotz der zwölf Jahre Rußland und trotz der Schweinerei, die man mit ihm in der Heimat begangen hatte. Früher war er schon der Beste der Kolonne. Sobald ich einen Posten frei habe, hole ich ihn nach Minden zurück …
Heute nun saß Fritz Bergschulte auf seinem Sofa, blätterte in der Zeitung, ehe er aufstand, an den elektrischen Kocher trat und sich die Kartoffeln, die geschnitten in der Pfanne lagen, briet. Dann machte er mit einem Büchsenöffner eine Dose Bratheringe auf und bediente sich. Die Kartoffeln mußten noch braten. Er setzte sich wieder auf das Sofa und griff abermals zur Zeitung. Jetzt erst entdeckte er unter der Zeitung den Brief Ermanns. Erfreut, von dem Freund zu hören, riß er ihn schnell auf und las mit wachsender Erregung das Schreiben.
Lina, durchzuckte es ihn. Lina ist bei Max Schmitz. Sie hat Korngold verlassen, sie steht zu mir, sie wartet auf mich, sie hat alles aufgegeben, weil sie mich liebt. Ein wundervolles Glücksgefühl durchzog ihn. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und vergegenwärtigte sich das Bild Linas. So hatte er oft auch in den russischen Lagern gesessen, hatte an sie gedacht und sich Kraft geholt aus der Liebe, die sie beide – wie er geglaubt hatte – miteinander verband.
Ob er ihr schreiben sollte? Ob er sie zu sich nach Dortmund holen sollte? Er blickte sich um. Das kleine Zimmer, das schmale Bett, ein Sofa, ein Stuhl, ein Schrank, ein Nachttisch und eine kleine weiße Kommode. Er schüttelte den Kopf und las den Brief noch einmal. Unmöglich. Wenn er ihr jetzt schriebe, würde sie sofort kommen. Und hier zu zweit wohnen? Ausgeschlossen, das ging nicht. Peter war ja auch noch da. Von ihm stand übrigens nichts in dem Brief. Wo befindet sich der, fragte sich Fritz.
Plötzlich fiel ihm die Unterredung mit Dr. Schrader ein. Es ist schwer, gegen Heinrich Korngold die nötigen Beweise, die ihn vernichten, beizubringen. Geradezu gelegen käme ihm, wenn ich dumme Fehler machen würde. Und ein solcher Fehler wäre es, wenn ich Lina jetzt schon zu mir holen würde. Dann hätte Korngold ein wunderbares Mittel in der Hand, uns unter Druck zu setzen. Dann hätte nämlich Lina – juristisch gesehen – mit mir, ihrem eigenen Mann, Ehebruch begangen, und Korngold könnte ihr gerichtlich untersagen lassen, mich – nämlich denjenigen, mit dem sie Ehebruch begangen hat – zu heiraten. Ein Irrsinn das – aber nicht zu ändern. Paragraphen sind oft von einem normalen Verstand nicht zu fassen.
So dachte Fritz und übertrieb dabei natürlich ein bißchen. Er sah das zu kraß.
»Nein!« sagte er laut. »Lina, es geht nicht. Ich darf es nicht. Unsere Zukunft ist wichtiger als eine unmittelbare selige Gegenwart. Warte noch ein wenig, ein oder zwei oder auch drei Monate. Wir haben zwölf Jahre aufeinander gewartet – was sind da
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