Morgen ist ein neuer Tag
heißt, mein Maxe wäre tot und man hätte mit eigenen Augen gesehen, wie er starb, dann wäre ich davon auch überzeugt, so schwer es mir fallen würde. Da kann Ihnen keiner, auch der Fritz nicht, einen Vorwurf machen. Der Lump ist dieser Korngold. Und nun wollen wir mal sehen, was wir heute zusammen machen. Um ein Uhr will Max essen kommen. Damit habe ich keine Mühe. Es gibt noch Sauerkraut von gestern, dazu Bratwürste. Da können wir am Vormittag noch schnell nach Vlotho fahren und Ihren Peter holen.«
»Das wäre schön.« Lina blickte Frau Schmitz mit teils erfreuten, teils angstvollen Augen an. »Aber wie soll das werden, was sage ich dem Jungen bloß? Wie soll ich ihm beibringen, daß sozusagen zum zweiten Mal ein Vaterwechsel für ihn fällig ist. Er wird nicht begreifen, daß sein erster Vater wieder lebt, der längst tot war. Ich weiß nicht, wie ich ihm das sagen soll …«
»Lassen Sie das nur laufen.« Frau Schmitz räumte den Tisch ab und stellte das Geschirr auf ein großes Holztablett. »Das ergibt sich alles von selbst. Erst muß der Junge einmal hier sein, und wenn er den Charakter und die Seele seines Vaters hat, wird sich das alles rascher einrenken, als Sie denken.«
Am gleichen Tag, an dem vormittags Max Schmitz bei Paul Ermann anrief und dieser sich höchst erstaunt und verblüfft zeigte, als er die Rückkehr Fritz Bergschultes erfuhr, saß kurz danach Ermann am Schreibtisch und schrieb mit seinen dicken Fingern eigenhändig auf der Schreibmaschine im allgemein bekannten Zweifingersystem einen geheimen Brief an Fritz Bergschulte:
»Lieber Fritz! Soeben hat Max Schmitz angerufen. Weißt Du, der Max mit dem Schnauzbart, den wir immer ›Die Robbe‹ oder ›Das Walroß‹ nannten. Er teilte mir mit, daß Du zurückgekommen und spurlos in Minden verschwunden bist. Lina, Deine Frau, wohnt jetzt bei ihm. Sie hat den Korngold verlassen und sucht Arbeit. Sie wartet darauf, daß Du ein Lebenszeichen gibst. Ich habe mich ganz dumm gestellt (das fällt mir ja nicht schwer) und gesagt, ich will mithelfen, Dich zu suchen. Ich wollte dem Walroß nicht sagen, daß Du in Dortmund bist, denn ich wußte ja nicht, ob es Dir recht ist. Du hast nun allein die Entscheidung, ob Du Lina schreibst oder ob Du schweigen willst. Ich werde nichts verlauten lassen, bis Du mir mitteilst, was Du tun willst. Aber im Vertrauen, die arme Lina tut mir leid. Und ich will auch sehen, ob ich ihr nicht irgendwo eine Stellung vermitteln kann, ohne daß mein Name genannt wird. Ihr habt es dann beide leichter und könnt zusammen Euer Leben wieder aufbauen. Du sollst auf jeden Fall sehen, daß Deine alten Freunde noch da sind, und wenn auch einer derselben sich als Schuft entpuppt hat, wir anderen, Fritz, wir halten zu Dir und helfen Dir, so gut wir können. Und nun überlege Dir, was Du tun willst. Lina hat es jedenfalls verdient, daß Du ihr schreibst … Gruß. Dein Paule.«
Als Fritz Bergschulte diesen Brief zu Hause vorfand, lag ein besonders schwerer Arbeitstag hinter ihm. Müde und abgespannt betrat er sein möbliertes Zimmer in der Nähe des Dortmunder Hafens und warf sich auf das alte Sofa, das hinter einem breiten Tisch stand.
Zunächst sah er das dunkelgrüne Geschäftskuvert Paul Ermanns nicht, weil es unter der Zeitung lag, die ihm die Zimmerwirtin jeden Tag auf den Tisch legte. Er griff vielmehr erst nach dem Blatt, das er abonniert hatte, und versenkte sich in die Lektüre desselben.
Lesen, das war seit dem Tage, an dem er in Dortmund angekommen war, sich bei dem Bauunternehmer, vorgestellt und sofort, ohne Zögern, auf die Empfehlung Ermanns hin den Posten des Poliers und Führers der Arbeiterkolonnen bei einem Behördenbau in der Innenstadt erhalten hatte, die einzige Zerstreuung nach der Arbeit. Von der Großstadt Dortmund hatte er noch recht wenig mitbekommen. Einmal war er in der Brückstraße in einem großen Kino gewesen und hatte einen amerikanischen Abenteurerfilm mit Errol Flynn gesehen. Nach der Vorstellung war er in eine der vielen Wirtschaften auf dem Ostenhellweg gegangen und mit der letzten Bahn wieder hinausgefahren zum Hafen, wo er sein Zimmer hatte. Am dritten Tage hatte er sich bei einer Leihbücherei eingetragen und gleich drei Bücher mitgenommen – einen Hemingway, von dem man so viel sprach, ein Buch von Frank Thieß und einen spannenden Kriminalroman von C.V. Rock. Bis spät in die Nacht pflegte er dann hinter den Büchern zu sitzen und zu lesen, und eine andere Welt, eine längst
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