Morgen ist ein neuer Tag
Wiedersehen.
Der Lärm der Straße verebbte, im Hafen erstarb das Rattern der Kräne und das zischende Fauchen der kleinen Schlepplokomotiven. Es war fast, als könne man in der Stille, die jetzt über den Straßen lag, das Klatschen der Wellen an die Kaimauern und Laderampen hören. Nur von den Riesenwerken Hoesch herüber tönten die Schichtsirenen über die Stadt.
Fritz Bergschulte lag noch immer auf dem Bett und starrte an die Decke, an welche die Straßenbeleuchtung wunderliche Figuren zeichnete.
»Ich werde ihr schreiben«, sagte er leise, »ohne ihr mitzuteilen, wo ich bin. Ich werde ihr sagen, daß ich auf sie warte und daß auch sie auf mich warten soll. Nur noch kurze Zeit, und wir werden wieder für immer zusammen sein.«
Er stand auf, knipste die Deckenbeleuchtung an und holte aus der Kommode einen Schreibblock und ein Kuvert. Langsam, jede Zeile überlegend, schrieb er, und seine Schrift war vor innerer Erregung etwas zittrig und zerfahren. Dann schloß er das Kuvert, schrieb die Anschrift ›Frau Lina Bergschulte, bei Max Schmitz, Minden, Kasernenstraße 15, 4. Stock‹ und las sie noch einmal durch. Lina Bergschulte stand da. Er schloß die Augen bis auf einen Schlitz. Ja, Bergschulte. Lina Korngold? Eher würde ihm die Hand abfaulen, als daß er diesen Namen schriebe. Diese drei Jahre Korngold wollte er aus ihrem Leben streichen, – diese drei Jahre hatte sie nie gelebt. Diese Vergangenheit wollte er löschen mit allen Mitteln, von denen ihm keines unwesentlich erschien.
Er frankierte den Brief und wog ihn dann in der Hand, als sei er sich noch unschlüssig, ob er ihn auch wirklich wegschicken sollte. Doch dann steckte er ihn entschlossen in die Brieftasche.
Morgen fährt ein Arbeiter von mir nach Braunschweig, dachte er. Seine Mutter ist schwer erkrankt. Er wird den Brief mitnehmen und in Braunschweig in den Kasten werfen.
Braunschweig. Nie wird Lina erfahren, daß er in Dortmund ist.
In Braunschweig wird sich seine Spur, die sich im Poststempel manifestiert, verlieren.
Arme, kleine, liebe Lina … vergib mir den kleinen Schwindel. Es ist besser für uns, denn wir wissen doch, daß wir nicht stark genug sein können, um zu widerstehen, wenn wir uns gegenüberstehen und der Verlockung unserer Körper ausgesetzt sind.
Er schloß das Fenster und zog die Gardine vor, als zöge er einen Vorhang über einen neuen, zu Ende gegangenen Akt eines Dramas, das man Leben nennt …
5
Heinrich Korngold fuhr bis an die Ecke der Ulmenstraße. Dort stieg er aus dem Wagen und ging das kurze Stück zu Fuß. Die Nachtluft erfrischte ihn und gab seinem überanstrengten Gehirn neue Spannkraft. Immer wieder schaute er auf seinen Zettel:
Dr. Schrader. Dr. Arnulf Schrader.
Wo hatte er diesen Namen schon einmal gehört? Er kam ihm so bekannt vor, als hätte man schon öfter von ihm gesprochen. Oder hatte er ihn gelesen? Das war möglich. Wenn Dr. Schrader ein guter Anwalt war, stand er bestimmt mehrmals in den Zeitungen als Verteidiger in großen Prozessen.
Vor dem Haus hielt Korngold an und schaute zu den Fenstern hin. Durch die Ritzen der geschlossenen Schlagläden schimmerte Licht. Dr. Schrader war also noch nicht zu Bett gegangen. Das war ein glücklicher Umstand. Vielleicht war es auch ein Fingerzeig des Schicksals, daß hier der Mann wohnte, der seinen Prozeß übernehmen und nicht so arrogant sein würde wie die Kollegen in Vlotho.
Korngold durchmaß den Vorgarten und schellte. Eine nette, sehr gepflegte Dame öffnete die Haustür und schaute den späten Besucher fragend an.
»Bitte?« sagte sie.
Korngold zog den Hut und verbeugte sich korrekt. Bestimmt die Herrin des Hauses, dachte er. Er räusperte sich.
»Ist Ihr Herr Gemahl noch zu sprechen, gnädige Frau?« fragte er. »Es handelt sich um einen dringenden Fall, der keinen Aufschub verträgt.«
»Bitte, treten Sie näher.« Frau Schrader führte ihn in ein gut eingerichtetes Wartezimmer und bat, sich einen Augenblick zu gedulden. Kurz darauf kam sie wieder zurück, und Heinrich Korngold legte die Illustrierte auf den Tisch, in der er nervös geblättert hatte.
»Mein Mann läßt bitten«, sagte sie.
Sie führte ihn durch ein Herrenzimmer und schloß dann hinter ihm die Tür. Aus dem angrenzenden Raum tönte eine Stimme.
»Bitte, einen Moment …«
Dann trat Dr. Schrader in das Zimmer und knöpfte sich einen Kamelhaar-Hausrock zu. Grüßend nickte er und sagte:
»Sie müssen vielmals entschuldigen, aber ich hatte es mir schon gemütlich
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