Morgen komm ich später rein
Schöpfungsprozess
des Schriftstellers: |128| »Einsamkeit und Faulheit liebkosen die Phantasie.« Und Goethe sah es aus ganz pragmatischer Perspektive der ökonomischen Effizienz:
»Unbedingte Tätigkeit macht zuletzt bankrott.«
Wir kennen das von uns selbst: Wer den ganzen Tag nur hektisch Aufgaben abarbeitet, wer zwischen E-Mails und Meetings keine
freie Minute zum Nachdenken hat, wer auf diese Weise die Wochen, Monate und Jahre vorbeiziehen sieht, kommt schnell in eine
Sinn und Schaffenskrise: Wozu dieses Hamsterrad? Ich trage ja nicht mal etwas Konzeptionelles zu meinem Job bei. Die Entscheidungen
werden eh woanders getroffen. Spätestens, wenn uns dann eine Krankheit für ein paar Tage lahmlegt, merken wir, wie der kreative
Teil unseres Hirns wieder warmläuft. Wir lesen Bücher, sprechen mit Freunden auch mal über etwas anderes als die Arbeit, freuen
uns an ziellosen Spaziergängen, an langen Telefonaten, an der abwechslungsreichen Welt außerhalb unserer Bürozelle. Am Ende
sind unsere geistigen Akkus wieder aufgeladen. Wir haben Pläne, Ideen, gute Vorsätze – die meist schnell wieder im Arbeitsalltag
untergehen. Wie kommt es, dass wir uns mit einer abklingenden Grippe im Bett oft kreativer fühlen als im Büro?
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Kreativitätstheorien: Einsames Genie oder Interaktion?
Die
Encyclopaedia Britannica
definiert Kreativität als »die Fähigkeit, etwas Neues herzustellen oder anderweitig ins Leben zu rufen, sei es eine neue Lösung
für ein Problem, eine neue Methode, ein neues Werkzeug, ein neues künstlerisches Objekt oder eine artistische Form.« Das vielleicht
beste aller Lexika erklärt weiter, es gebe bestimmte Charaktereigenschaften, die nachweislich mit kreativer Produktivität
einhergehen. Eine davon ist Autonomie: Kreative Menschen tendieren dazu, in ihrem Denken und Handeln unabhängig und nonkonformistisch
zu sein.
Als sich der preisgekrönte Lyriker Durs Grünbein und der Hirnforscher Ernst Pöppel im Jahr 2000 im Auftrag des
Spiegel
über Kreativität unterhalten sollten, konnten sie sich zunächst nicht einigen: »Für mich bedeutet schriftstellerische Kreativität,
Auszeiten |129| zu produzieren, sich innerlich von der Welt zu entfernen – ein größtmögliches Quantum an hochkonzentrierter und von allem
äußeren Geschehen abgekapselter Lebenszeit«, so Grünbein. »Diese kortikale Sensibilisierung, diese unbedingte Aufmerksamkeit
nach innen ist notwendig für den schillernden Moment des Schaffens.« Pöppel störte an diesen Aussagen weniger das schwurbelige
Dichterdeutsch als vielmehr Grünbeins Betonung der Einsamkeit. Der Forscher widersprach: Kreativität erfordere Interaktion.
Er hatte zwar Verständnis für das Isolationsbedürfnis des innovativen Schreibers, plädierte aber für Abwechslung – erst »durch
Sprechen verstehe ich etwas Neues. Aber die Nachhaltigkeit und Tiefe dieser neuen Erkenntnis ist nicht vergleichbar mit dem
Beisich-Sein, wenn man abgeschlossen von der Welt etwas aufschreibt. So intensiv arbeiten kann man eigentlich auch nur zwei
bis drei Stunden am Tag. Wenn es keine Störung von außen gibt, hat man in diesen Momenten den maximalen Zugang zu allem, was
im Gehirn vorhanden ist: Gefühle, Erinnerungen, Wahrnehmungen.« Grünbein stimmte schließlich zu: Dem kreativen Prozess »geht
immer das soziale Leben voraus, sagen wir, der Gang durch eine Großstadt. Ich weiß von mir selbst, dass es diese Phasen absoluter
Reizüberflutung geben muss, um hinterher alles in Ruhe zu entwickeln. Es muss beides geben – Konzentration, die auf sich selbst
beschränkt bleibt, geht zuletzt leer aus.«
Der amerikanische Psychologe E. Paul Torrance erfand bereits 1966 die heute gängigste Methode, Kreativität zu messen: Den
Torrance Test of Creative Thinking (TTCT). Mit ihm lassen sich Grundeigenschaften kreativer Menschen überprüfen: Die Fähigkeit,
über viele Ideen schnell nachzudenken, die Flexibilität, neue Ideen und Werkzeuge auf ungewöhnliche Weise anzuwenden sowie
die Originalität, sich neue Ideen und Produkte auszudenken.
Torrance’ Kollege Mark Runco ergänzte, dass der kreative Prozess aus sechs Phasen besteht, in denen sich der kreative Mensch
zunächst »orientiert«, also mit großer Neugierde Informationen sammelt. Dann folgt die Phase der »Inkubation«, in der er das
zu lösende Problem definiert und unter Verwendung der vorher gesammelten |130| Informationen nach
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